Bernd Schmies / Cornelius Bohl (Hgg.): Vermittlungsversuche. Franziskanische Theologie in der Begegnung mit der frühen Reformation. Johannes Karl Schlageter OFM zum 85. Geburtstag (= Franziskanische Forschungen; Bd. 55), Münster: Aschendorff 2022, XVII + 669 S., ISBN 978-3-402-18691-6, EUR 78,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Cornelius Bohl / Bernd Schmies (Hgg.): FELIX ISTE VIATOR. Franziskanisch unterwegs in Kunst, Literatur und Geschichte. Jürgen Werinhard Einhorn zum Gedenken, Münster: Aschendorff 2014
Gert Melville / Leonie Silberer / Bernd Schmies (Hgg.): Die Klöster der Franziskaner im Mittelalter. Räume, Nutzungen, Symbolik, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015
Heinz-Dieter Heimann / Angelica Hilsebein / Bernd Schmies u.a. (Hgg.): Gelobte Armut. Armutskonzepte der franziskanischen Ordensfamilie vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Die Titelei des hier zu besprechenden Buches erweckt den Eindruck, als handle es sich um eine Festschrift, in welcher Johannes Karl Schlageter durch die Beiträge anderer geehrt würde. Tatsächlich aber sind seine eigenen Beiträge aus nahezu fünfzig Jahren Forschungstätigkeit hier versammelt. Allerdings stellt dies keine Enttäuschung dar, im Gegenteil. Verbunden mit Namen wie Kaspar Elm und Gert Melville, ist Ordensgeschichte längst zu einer Domäne der allgemeinen Geschichtswissenschaft geworden und hat ihren Platz auch institutionell an Universitäten gewonnen. Das ist ein unübersehbarer Gewinn für das Forschungsfeld, und doch erinnert ein Band wie der vorliegende daran, dass auch klassische Ordensgeschichte, d.h. jene genaue, durch Lebenszusammenhänge mit tiefen Kenntnissen und innerer Verbundenheit unterfütterte Forschung durch Ordensangehörige selbst ihren wichtigen Platz zur Erschließung der historischen Zusammenhänge hat und weiter haben sollte.
Schlageter ist durch seine Dissertation zum Kirchenverständnis Wilhelms von Ockham, die er 1970 in München eingereicht hat, bekannt geworden. [1] Aus ihrem Umfeld stammen die ersten drei Beiträge in diesem Band, freilich schon geschrieben mit Blick auf die Reformation. Im ersten Aufsatz zu Ockhams Schrifthermeneutik (3-56) arbeitet Schlageter heraus, wie der für seine Rationalität bekannte Franziskaner die Notwendigkeit einer göttlichen Offenbarung zur letztgültigen Erschließung des eigentlichen, und das heißt: historisch ursprünglichen Sinnes der Schrift benennt. In der praktischen Auslegung aber wartet Ockham durchaus nicht auf jene Offenbarung, sondern bemüht sich, den Literalsinn "auf theologisch-rationalem Wege" zu finden (43).
Nicht nur in Schlageters Hinweisen auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum späteren Sola scriptura-Prinzip zeigt sich eine ambivalente Zuordnung von Ockham und Reformation. Eine offenkundige Bewunderung, ja, Liebe für Luther verbindet sich mit der Kritik an diesem und an Ockham, wo beide nach Schlageter aus der Kritik an den Zuständen des spätmittelalterlichen Papsttums grundsätzliche Folgerungen ziehen (57-87). Dieser Aufsatz von 1977 zeigt die Orientierung an der von Lortz und Iserloh geprägten Perspektive auf das späte Mittelalter als eine Zeit des Verfalls, auf welchen Luther mit einer begrenzten Berechtigung, am Ende aber zu weit führender Kritik reagiert habe. Diese seinerzeit neue katholische Sicht hat einer gemeinsamen historischen Verständigung unter Kirchenhistoriker:innen unterschiedlicher Provenienz den Weg geebnet, lässt aber heute auch ihre apologetischen Strukturen erkennen.
So wie man beim Aufsatz zum Schriftverständnis die Konzilskonstitution "Dei verbum" als impliziten Maßstab erahnen kann, ist es hier ein reformiertes Papsttum, wie es Schlageters akademischem Lehrer Heinrich Fries vor Augen stand.
Die darin erkennbare Gegenwartsorientierung prägt auch eine interessante Preziose, in welcher Schlageter zeigt, wie sich der ehemalige Franziskaner Eberlin von Günzburg im Zuge seiner Zuwendung zur Reformation zu einem zunehmend scharfen Kritiker seines früheren Ordens, auch im Blick auf die Entstehung seiner Regeln unter päpstlicher Anleitung, entwickelte, während Augustin von Alveldt deren Legitimität auch mit historisch fragwürdigen Konstruktionen zu verteidigen suchte (89-118). Beiden stellt Schlageter den Appell an eine Ordensreform aus dem Geist von Ordensgründer und -gründerin entgegen (117f).
Dieser Aufsatz leitet schon zu der zweiten Abteilung der Sammlung über, die den Franziskanern "zwischen Ordensreform und kirchlicher Reformation" gewidmet ist. In zwei Beiträgen beleuchtet er die Stellung von Franziskanern zu den wichtigen sächsischen Universitäten Leipzig und Wittenberg (121-135; 137-163). In der reformationshistorischen Forschung wurde zu wenig wahrgenommen, dass sich das Wirken Augustins von Alveldt, eines der wortmächtigsten frühen Gegner Luthers, auch als Ausdruck des im Zuge der Observanz erstarkenden Franziskanerstudiums Leipzig und einer damit verbundenen Konkurrenz zu der (freilich noch geraume Zeit altgläubigen) universitären Theologie vor Ort interpretieren lässt. Für die Wittenberger Konstellation hat Gerhard Hammer 1978 das Protokoll der Franziskanerdisputation von 1519 bekannt gemacht - Schlageter zeigt bei aller offenkundigen Begrenztheit der damaligen franziskanischen Argumentation (156) auf, dass es sich hier um eine Disputation zwischen Menschen handelte, die auf beiden Seiten nicht mit dem Ordensleben gebrochen hatten. Für die Franziskaner bot sie daher in Schlageters Augen auch die verpasste Chance einer Reform im Geiste Franz' von Assisi.
Auch seine weiteren Studien sind von der Frage geprägt, wie sich Franziskaner und Klarissen einerseits um eine Reform ihres Ordens in konstruktiver Reaktion auf die Reformation bemühten wie Kaspar Schatzgeyer und Charitas Pirckheimer (165-180), und sich andererseits wie Eberlin und andere auf die Seite der Reformation schlugen (181-220). Mit seinem Beitrag zu Georg III. von Anhalt und dessen Kritik an Franziskanern (221-258) unterstreicht er den auch sonst zu gewinnenden Eindruck, dass Georg theologisch bemerkenswert reflektiert war. Komplettiert wird der Abschnitt durch zwei Studien zu dem in der Forschung sonst wenig berücksichtigten Arnstädter Franziskaner Kaspar Meckenlör (259-324).
Der dritte Abschnitt gilt Augustinus von Alveldt. Selbst ohne die schon erwähnten Bezüge auf ihn machen die Beiträge zu ihm mehr als die Hälfte des Bandes aus. Das ergibt eine Unwucht, die entweder durch Herauslösung eines eigenen Alveldt-Bandes oder, wohl besser, durch Reduktion der Anzahl der Beiträge zu beheben gewesen wäre. Von den acht Alveldt-Beiträgen stammen allein vier aus dem Umfeld der schon im Zusammenhang mit dem Aufsatz zu Alveldt und Eberlin thematisierten Erklärung der Klarissenregel. Deren deutsche Fassung liegt hier in einer Edition vor (511-574), die lateinische Edition wird S. 575 Anm. 2 für 2020 angekündigt und in der vorhergehenden Anm. zu Recht als 2020 erfolgt bibliographiert. Das hätte sich redaktionell geschickter klären lassen, einschließlich dessen, dass eine Umstellung der Verweise vom Manuskript auf die Edition hilfreich zur Weiterarbeit gewesen wäre.
Gleiches gilt für den Aufsatz über Alveldts Loci communes (471-509) aus dem Jahre 2011, der sich auf den Text einer Schrift bezieht, die in einem ebd. 391-469 wiedergegebenen Aufsatz von 2015 ediert und übersetzt vorliegt, ohne entsprechende Querverweise zu schaffen. Diese kritischen Bemerkungen bedeuten nicht, dass die Beiträge zu Alveldt nicht mit Gewinn zu lesen wären. Neben dem zur franziskanischen Bildung und Tradition (327-357) gilt dies besonders für den Aufsatz über Polemik von Humanisten gegen Alveldt (359-390). Diese stand neben reformatorischen Schriften gegen ihn und nahm ihn mehr zur allgemeinen Zielscheibe des Spotts über Scholastik. Schlageter öffnet hier eine spannende Perspektive auf die diskursive Vielfalt des 16. Jahrhunderts. Gerade aber weil alle seine Beiträge von bemerkenswerter Qualität sind, hätte man sich von den Herausgebern, die bibliographisch so prominent erscheinen, mehr Mühe in der schwierigen Aufgabe der Auswahl und Redaktion gewünscht. Auch ein Register hätte gute Dienste geleistet, um diese beeindruckende Summe eines Lebenswerks zu erschließen.
Eben das ist, ungeachtet der Einwände, dieser Band. Bis auf zwei sind die darin enthaltenen Aufsätze in "Wissenschaft und Weisheit" und anderen franziskanischen Organen erschienen, die vermutlich nicht überall leicht zugänglich sind. Schlageters klare Quellenanalyse lässt auch ältere Beiträge frisch und hilfreich erscheinen. So ist dieses voluminöse Werk vielleicht keine Festschrift im klassischen Sinne, aber doch ein Fest für alle die, die Interesse an der Kirchengeschichte des späten Mittelalters und der Reformation haben. Zu einem auch persönlich bewegenden Zeugnis wird es durch einen "Offenen Brief" an Martin Luther, den Schlageter 2017 verfasst hat und den die Herausgeber, bewusst noch römisch gezählt, den wissenschaftlichen Beiträgen vorangestellt haben. Der Angeredete habe nun wohl, so Schlageter über den Exkommunizierten, "in der neuen Welt Gottes" seine "erhoffte Vollendung gefunden" (XI) - und selbst auf seine Frage nach Luthers Stellung zum Ordensgehorsam findet der treue Franziskaner eine irenische Antwort: "Vielleicht verstehen wir heute besser als früher, dass eine solch neue Einsicht und Lebenswende kein Verrat sein muss an dem früher einmal gewollten und versprochenen Lebensweg" (XVII).
Anmerkung:
[1] Johannes Schlageter: Glaube und Kirche nach Wilhelm von Ockham. Eine fundamentaltheologische Analyse seiner kirchenpolitischen Schriften, Münster 1975.
Volker Leppin