Aurelia Benedikt: Die Mirakelberichte des Gnadenortes Mariahilf in der St.-Jakobs-Kirche in Innsbruck (1662-1724). Analysen zu ihrer Bedeutung im Barockzeitalter (= Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge; 72), Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2021, 648 S., 74 Abb., 9 Tbl., ISBN 978-3-7030-6565-1, EUR 29,90
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Das lateinische Wort "miraculum" bedeutet Wunder, insofern könnte man bei der Quellengattung der Mirakelberichte zunächst auf Sammlungen göttlicher Wunderberichte schließen. Eine wortgetreue Übersetzung führt allerdings auf eine falsche Fährte. Denn bei den frühneuzeitlichen Mirakelberichten handelt es sich um die Dankschreiben gläubiger Katholik:Innen für ihre erhörten Gebete, die besonders im 17. und 18. Jahrhundert stark verbreitet und gesammelt wurden. Die Mirakelberichte sind demnach Zeugnisse und Dokumentationen der Alltagsprobleme in frühmodernen Gesellschaften sowie des Volksglaubens, dass persönliche Probleme durch göttliche Fügung gelöst werden konnten. Die gezielte Sammlung derartiger Berichte war Teil einer klerikalen Strategie zur Ausweitung und Förderung von Volksreligiosität in den katholischen Ländern. Nach dem Frieden von Münster und Osnabrück 1648 wurde die römisch-katholische Kirche immer weiter aus der Sphäre des Politischen zurück- und in eine passive Beobachterrolle hineingedrängt. Folglich lag dem Klerus stark daran, den kirchlichen Einfluss in der breiten Masse zu bewahren oder gar auszubauen.
In diesem Sinne wurde die Vorstellung, ein gewogener und guter Gott erhöre die Gebete der Gläubigen, gezielt gefördert, unter anderem durch Bekenntnisschreiben, wie sie die genannten Mirakelberichte darstellen. Diese sollten, als Beweise göttlicher Güte, zum fleißigen Kirchengang, Gebeten und Geldopfern anspornen. In der heutigen Dompfarrei zu St. Jakob in Innsbruck liegen 30 von ursprünglich einmal 42 Bänden mit insgesamt 3000 überlieferten Mirakelberichten, die in den Jahren von 1662 bis 1724 verfasst und gesammelt wurden. Eine Auswahl von 400 Berichten hat Aurelia Benedikt im Werk "Die Mirakelberichte des Gnadenortes Mariahilf in der St.-Jakobs-Kirche in Innsbruck (1662-1724)" von 2021 analysiert und ediert. Die Selektion erfolgte unter dem Kriterium, dass die "Texte ein lebendiges Bild der damals bestehenden sozialen, ethnologischen und kulturhistorischen Verhältnissen vermittelten" (192). Die Autorin macht der Fachwelt dadurch rund 13 Prozent der in Innsbruck erhaltenen Mirakelberichte zugänglich. Da diese laut Benedikt "von den Votant:Innen in Ichform geschrieben und unverändert gebunden wurden" (137), besitzen die sogenannten "Centurien" - in jedem der 30 Bände sind einhundert Berichte eingebunden - als Ego-Dokumente enormes Potenzial für die Erforschung der lokalen Mentalitäts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Tiroler Landeshauptstadt Innsbruck.
Es verwundert kaum, dass hinter der Idee der Mirakelberichte ein Jesuit stand, da sich die Ordensmitglieder der "Societas Jesu" in der Frühen Neuzeit hauptsächlich dem Kampf gegen Häresie in Gestalt des Protestantismus verschrieben. Die Motivations- und Interessenslage des geistlichen Initiators Wilhelm von Gumppenberg (1609-1675) korrespondierte mit der jesuitischen Tradition, wie Benedikt in einer biographischen Skizze über den Jesuiten bestätigt: Als Prediger am Innsbrucker Hof erwirkte er 1662 die Etablierung der Stadtpfarrkirche als Wallfahrtsort mit dem originalen Gnadenbild Mariahilf von Lucas Cranach d. Ä. (1472-1553), damit "Wallfahrende nicht durch konfessionell fremdes Gebiet ziehen mussten" (15). Sofern die Gebete an die Gottesmutter erhört wurden, instruierte Gumppenberg die Gläubigen zur Hinterlegung von Bekenntnisschreiben, die nach einem neuntägigen Novengebet an neun Samstagen im Jahr in einem Kästchen unterhalb des Mariahilf-Bildes hinterlegt werden konnten. Bekanntheit erlangte die neue Wallfahrtskirche zu St. Jakob durch Einträge in der lateinischen und deutschen Fassung des "Atlas Marianus", der im Sinne des Verfassers Gumppenberg wiederum "als eine Gegenbewegung zur Reformation die Rechtgläubigkeit der Katholiken festigen sollte" (130).
Spannend sind die Mirakelberichte auch für die Erforschung der frühneuzeitlichen Geschlechtergeschichte im städtischen Milieu: Benedikt konnte nicht nur rekonstruieren, dass 202 Wallfahrer:Innen größtenteils aus der Stadt und der Umgebung Innsbrucks stammten, sondern dass der überwiegende Teil der Votant:Innen weiblichen Geschlechts war. Leider wurden die erhobenen Daten und edierten Berichte nicht für ein Orts- und Personenregister genutzt, das die gezielte Benutzung und Auswertung dieses 648 Seiten starken Bandes sehr erleichtert hätte.
Sehr wohl aber hat die Autorin die 400 wörtlich und mit einem Regest versehenen edierten Mirakelberichte der Jahre von 1662 bis 1724 im einführenden Analyseteil thematisch ausgewertet: Inhaltlich rekurrieren sie unter anderem auf die Heilung von Krankheiten, den Schutz vor und das Überstehen von Unfällen, erfolgreiche Schwangerschaften und Geburten, die Unterstützung bei psychischen Leiden, die Erdbeben von 1670 und 1689 und den Krieg gegen Türken und Franzosen unter Karl V. Leopold Herzog von Lothringen (1643-1690). Die Schreiber:Innen deuteten alle Wohltaten, die ihnen widerfuhren, als Erhörung der Bitten an das Gnadenbild Mariahilf. So berichten sie en passant zwischen den Zeilen über die lokale Wallfahrts- und Frömmigkeitspraxis im Zeitalter des Barockkatholizismus, eine Thematik, die Benedikt in ihrem Auswertungsteil ebenso berücksichtigt.
Aurelia Benedikts Studie ist ein bedeutender Beitrag zur lokalen Kirchengeschichte der Stadt Innsbruck im 17. und 18. Jahrhundert. Durch Auswertung und Edition der Mirakelberichte wird der Geschichtswissenschaft eine unbekanntere Form von Ego-Dokumenten vorgestellt, die den Blick von einer Top-down- in Richtung auf eine Bottom-up-Perspektive lenkt.
Julian Lahner