Rezension über:

Julius Gerbracht: Studierte Kameralisten im deutschen Südwesten. Wissen und Verwalten im späten Ancien Régime (= Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte; Bd. 9), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 280 S., 3 Farbabb., 2 Tbl., ISBN 978-3-515-12967-1, EUR 60,00
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Rezension von:
Sabine Holtz
Historisches Institut, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Sabine Holtz: Rezension von: Julius Gerbracht: Studierte Kameralisten im deutschen Südwesten. Wissen und Verwalten im späten Ancien Régime, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/36033.html


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Julius Gerbracht: Studierte Kameralisten im deutschen Südwesten

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Die vorliegende Studie ging aus einem Cotutelle-Verfahren der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg und der EHESS Paris hervor. Ihr Ausgangpunkt war die Beobachtung, dass in den 1770er Jahren in der Kurpfalz und im württembergischen Herzogtum neue Institute entstanden, an denen entweder ausschließlich (Kurpfalz), oder aber als Unterrichtsschwerpunkt (Württemberg) kameralistisch-ökonomisches Wissen vermittelt wurde. Gemeinsam ist den neugegründeten Institutionen überdies die spätere Verlegung an bestehende Universitäten. Die 1774 im kurpfälzischen Kaiserslautern gegründete "Kameral-Hohe-Schule" wurde 1784 als "Staatswirtschaftliche Sektion" nach Heidelberg verlegt und 1802 dann in die Philosophische Fakultät der mittlerweile badischen Universität Heidelberg integriert. An der Hohen Karlsschule in Württemberg, die seit Dezember 1781 mit Universitätsprivilegien ausgestattet war, wurde eine Fakultät für "Ökonomie und Camerale" eingerichtet. Die Hohe Karlsschule wurde zwar 1794 geschlossen, zeitnah wurden aber an der Universität Tübingen Lehrstühle für Kameral- (1795) bzw. Forstwissenschaft (1798) errichtet. Diese beiden Lehrstühle wurden 1817 in die neu eingerichtete wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität überführt. Ähnliche Institutionen entstanden an den Universitäten Gießen (1777-1785 Ökonomische Fakultät) und Mainz (1784-1792 Kameralfakultät). Der bereits 1768 an der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg eingerichtete Lehrstuhl für Kameral- und Policeywissenschaft wird in der Studie nicht weiter berücksichtigt, da er offensichtlich nicht traditionsbildend wirkte. Dass dies auch damit begründet wird, dass die Universität bis 1806 zu Vorderösterreich (11, Fußnote 7) gehörte, erscheint aber als schwaches Argument: Zum einen, weil sie dann in badischen Besitz überging und zum anderen, weil es im deutschen Südwesten neben dem Breisgau und der Stadt Konstanz sieben vorderösterreichische Oberämter gab (um 1790). Hier könnte man sich durchaus vorstellen, dass die vorderösterreichischen Behörden in den Jahren zwischen 1768 und 1806 sehr wohl von dieser Einrichtung profitiert haben.

Die vorliegende Studie legt ihren territorialen Schwerpunkt auf die Kurpfalz, Württemberg und Baden (ab der staatwirtschaftlichen Sektion), hinsichtlich der Qualifikation des Personals fokussiert sie auf eine akademische Ausbildung. Traditionell öffnete ein juristisches Studium die besten Möglichkeiten auf eine Karriere im - modern gesprochen - Staatsdienst. Ausgehend von der Einrichtung neuer Bildungsanstalten steht in einem ersten Teil die Frage nach dem dort vermittelten Wissen im Vordergrund, im anschließenden zweiten Teil die Frage, ob sich das dort erworbene akademische Wissen in den anschließend ausgeübten Verwaltungstätigkeiten spiegelt. Zur Wissensvermittlung hält Gerbracht fest, dass das neue Wissen erst einmal generiert werden musste. Hier galt es, die Interessen der Landesherren, die die neuen Einrichtungen gegründet und finanziell ausgestattet hatten, und die theoretischen Wissensbestände der dort tätigen Lehrer in einem Lehrkonzept zusammenzuführen, das versprach, für den Staatsdienst nützliche Absolventen auszubilden. Die Konkurrenz der studierten Juristen und vor allem die nach wie vor verbreitete Adjunktionspraxis bildeten dafür eine hohe Hürde. Der Untersuchungszeitraum wird als jene Phase charakterisiert in der "kameralwissenschaftliches Wissen sich im Übergangsstadium vom präprofessionellen Expertenwissen zum professionellen Fachwissen befand." (241), chronologisch gefasst als Zeitraum zwischen der Errichtung erster kameralwissenschaftlicher Institute und dem Ende der 1820er Jahre.

Gerbracht stellt zu Anfang seiner Studie zwei Thesen auf. 1) Das Alleinstellungsmerkmal, das durch kameralwissenschaftliches Wissen erworben werden konnte, war der Nutzen der Wissensträger für die Herrschaftsträger. Worin dieser Nutzen bestand, untersuchte Gerbracht anhand verschiedener "Konstruktions-, Legitimations- und Aushandlungsprozesse" (19). Hierzu untersuchte er u.a. gedruckte Vorlesungen, Lehrbücher, wissenschaftliche Beiträge und Korrespondenzen. Die publizierten Schriften dienten dabei, so Gerbracht, nicht nur als Wissensspeicher, sondern auch als Input für einen breiteren Diskurs, um die aufgeklärte Öffentlichkeit von der Notwendigkeit der Ausbildung neuer Fachleute zu überzeugen.

2) Das kameralwissenschaftliche Wissen fand später - nach Anstellung als Amtsträger - seinen Niederschlag in den ökonomischen Praktiken dieses neuen Absolvententypus. Hier zeigt Gerbracht, "warum die studierten Kameralisten überhaupt ausgebildet wurden und warum sie so handelten, wie sie es taten." (20). Für die Analyse des zweiten Teils, die Untersuchung der Praktiken der späteren Amtsträger, kann er auf Lebensbeschreibungen bzw. auf ein biographisches Lexikon aufbauen. Für seine Analyse wählt er eine akteurszentrierte Perspektive. Sie erlaubt es überdies, die gegebenenfalls unterschiedlichen Handlungsstrategien von Vätern und Söhnen aufzuzeigen. Als Schaltstellen zwischen landesherrlichen Vorgaben und lokalen ökonomischen Bedingungen werden die Oberamtsverwaltungen ausgemacht, näherhin die Sektoren Forst- und Landwirtschaft sowie Bergbau. Gerbracht macht auf dieser Verwaltungsebene den größten Handlungsspielraum der studierten Kameralisten aus. Das meiste Aktenmaterial befindet sich im Generallandesarchiv Karlsruhe, mithin also für die kurpfälzische, später dann badische Perspektive der Untersuchung Gerbrachts.

Im Einzelnen: Bei der Untersuchung der Wissensbestände (Kapitel 2: Wissen) Gerbracht bei allen sachlichen und zeitlichen Übereinstimmungen interessante Unterschiede in seinen Untersuchungsterritorien ausmachen, die zeigen, dass es kein einheitliches Ausbildungsprofil gab, sich selbige sogar von Standort zu Standort unterschieden. Mit der Übersiedelung nach Heidelberg erfolgte die Abgrenzung vom Praxisbezug, den die Mitglieder der "Ökonomischen Gesellschaften" anfangs ins Lehrkonzept eingebracht hatten, und die Hinwendung zu gesetzgeberischen Kompetenzen auf dem Feld der Wirtschaft. Dies gab den kurpfälzischen Absolventen ein ausgesprochen politisches Profil als Reformvertreter. In Württemberg wurde die Ausbildung stark an den Bedarfen der Rentkammer orientiert. Dies hatte ein ausgesprochen praxisorientiertes Ausbildungsprofil zur Folge. Reformmaßnahmen waren, so Gerbracht, von diesen Fachleuten nicht zu erwarten. Die Ausbildung in badischer Zeit (hier wurden die ersten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts einbezogen) entwickelte sich je länger desto mehr zu einer "theoretisch-reflexive[n] Staatswirtschaft" (126), die den ursprünglich starken aufklärerischen Nützlichkeitsaspekt in Vergessenheit geraten ließ.

Die Untersuchung des praktischen Verwaltungshandelns (Kapitel 3: Verwalten) orientierte sich zunächst an den oben genannten drei Wirtschaftsfeldern. Daran anschließend galt ein Blick dem Thema Statistik und Bevölkerung. Speziell in den Fokus genommen werden dann noch die in kurpfälzischer Zeit studierten badischen Kameralisten. Der berufliche Erfolg der studierten Kameralisten hing in hohem Maße von den ökonomischen und administrativen Bedingungen ab, unter denen sie tätig wurden. Auch wenn die studierten Kameralisten nachweislich den größten Erfolg in den forstwirtschaftlichen Verwaltungen erzielten, da hier die Bedarfsorientierung der Institute am engsten war, wird deutlich, dass es nicht gelang, die kameralistische Ausbildung zu einem Alleinstellungsmerkmal bei Stellenbesetzungen zu machen. Direkter Einfluss des im Studium erworbenen Wissens ließ sich in den Quellen nur schwer fassen. Dass die studierten Kameralisten dennoch Einfluss auf die Transformationsprozesse der Umbruchszeit um 1800 hatten, zeigt meines Erachtens ein Blick über den von Gerbracht untersuchten Zeitraum hinaus. Hinter dem in Württemberg 1820 gegründeten "Königlich statistisch-topographischen Bureau" stand das fiskalische Interesse, aus einer genauen Kenntnis der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation wirtschaftspolitische Strategien für die Zukunft abzuleiten. Der Aspekt der Nützlichkeit ist nicht zu übersehen.

Abschließend ist festzuhalten, dass Gerbracht eine klar strukturierte und systematisch aufgebaute Studie vorlegt, die sich als Beitrag zu einer "kulturalistisch ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte" (20) versteht. Vor allem mit Blick auf die Kurpfalz bzw. Baden wird dieser Anspruch eingelöst. Dass Württemberg hingegen zurücktritt, ist offensichtlich der Quellenlage geschuldet. Im Ergebnis befasst sich die Studie mit einer Übergangszeit. Die studierten Kameralisten konnten sich wegen den diagnostizierten unterschiedlichen territorial-staatlichen Anforderungen und dem allmählichen Zurücktreten des Nützlichkeitsdiskurs, nicht gegen die nach wie vor dominanten Juristen als wesentliche Träger des (früh)modernen Staates etablieren. Aber auch die anhaltende Adjunktionspraxis bremste studierte Kameralisten aus. Die als ökonomisch, kameralistisch bzw. staatswirtschaftlich titulierten Institute/Fakultäten und ihre Absolventen blieben eine Episode auf dem Weg zur universitären Volkswirtschaftslehre (Nationalökonomie) des 19. Jahrhunderts. Dieses Ergebnis macht die Studie aber nicht minder spannend. Sie zeigt diese Umbruchsphase als ein Experimentierfeld für künftiges wirtschaftspolitisches Handeln. Ein Personenregister ist ihr beigegeben.

Sabine Holtz