Rezension über:

Michel Melot: Histoire de l’abbaye de Fontevraud. Notre-Dame-des-pleurs (1101-1793) (= Collection "Génétique"), Paris: CNRS Éditions 2022, 626 S., eine Kt., ISBN 978-2-271-14175-0, EUR 32,00
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Rezension von:
Annalena Müller
Département d'histoire, Université de Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Annalena Müller: Rezension von: Michel Melot: Histoire de l’abbaye de Fontevraud. Notre-Dame-des-pleurs (1101-1793), Paris: CNRS Éditions 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/37244.html


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Michel Melot: Histoire de l’abbaye de Fontevraud

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Mit der Histoire de l'abbaye de Fontevraud. Notre-Dame-des-pleurs (1101-1793) kehrt Michel Melot zu seinen Anfängen zurück. 1967 promovierte er an der Ecole des Chartes mit einer archäologischen Studie über Ausgrabungen der ehemaligen Abtei Fontevraud. In den bald 60 Jahren seit seiner Promotion war Melot nicht nur Sammlungsleiter der Bibliothèque nationale de France und Direktor der Bibliothèque publique d'information des Centre Georges Pompidou, sondern auch ein äußerst produktiver Autor, der zu zahlreichen kunsthistorischen, archäologischen und konservatorischen Themen publiziert hat.

Aber die bewegte Geschichte Fontevrauds, welche in der Forschung lange Zeit zu wenig Beachtung fand, hat ihn nie losgelassen. Die mächtige Abtei, in der eine Äbtissin über Nonnen und Mönche herrschte, der umfangreiche weltliche Besitzungen unterstanden und die seit ihrer Gründung mit den mächtigsten Männern und Frauen der Epoche eng verbunden war, fasziniert. Für diejenigen, die diese Geschichte erzählen wollen - oder sie selbst erforschen - ist sie auch oftmals frustrierend. Denn lange wurde der Abtei Fontevraud, Grablege der Plantagenets und zentraler Ort für den politischen Aufstieg der Bourbonen, die historiographische Aufmerksamkeit vorenthalten. So gab es bis jetzt keine Monographie, welche die Geschichte der Abtei von ihrer Gründung im Jahr 1101 bis zu ihrer Auflösung im Zuge der Französischen Revolution erzählt hätte. Diese Lücke hat Michel Melot nun geschlossen.

In 44 Kapiteln und auf knapp 600 Seiten nimmt Melot seine Leserinnen und Leser mit auf eine fulminante Zeitreise durch sieben Jahrhunderte. Die Monographie ist schwer zu typologisieren. Es ist ein Werk, wie man es fast nur bei französischen Intellektuellen findet: Voller Wissen und Brillanz, dabei einer schönen Sprache und dem Erzählfluss verpflichtet. Melot wendet sich nicht primär an ein wissenschaftliches Publikum (obschon für jeden 'Fontevristen' eine Pflichtlektüre), sondern an eine breite, interessierte, aber historisch durchaus versierte Leserschaft. Die Kapitel sind sehr kurz - im Schnitt nur 10-12 Seiten lang - und in sich nochmals unterteilt. Die Unterteilung in kleine 'Häppchen' gestaltet die Lektüre äusserst angenehm und dem Autor gelingt damit eine sehr gute Leserführung.

Melot stützt sich primär auf die vorhandene Forschung zu Fontevraud, die im vergangenen halben Jahrhundert langsam, aber stetig gewachsen ist, sowie zu verwandten Themen. Mit wenigen Ausnahmen aus dem anglophonen Sprachraum berücksichtigt Melot hauptsächlich französischsprachige Arbeiten. Zum Teil bisher unbekannte Einblicke gewährt er seinen Lesern, wenn er sie in das spätmittelalterliche Fontevraud mitnimmt. Bisher sind vor allem die Frühphase (Jean-Marc Bienvenue; Jacques Dalarun), sowie die Zeit der Klosterreform ab dem 15. Jahrhundert (Melot; Dalarun; Müller) erforscht worden. Das 13. und 14. Jahrhundert hingegen haben in der modernen Forschung bis dato fast keine Aufmerksamkeit bekommen.

Sowohl das umfassende Wissen Melots als auch seine Narration beeindrucken beim Lesen immer wieder. Er erzählt die Geschichte der Abtei nicht in Form einer Ereignisgeschichte. Obwohl chronologisch aufgebaut, geht Melot thematisch vor. So sind die Kapitel z.B. den Klosterregeln ("Les constitutions" 67-82), den Reliquien (83-93) oder den Prioraten (123-136) gewidmet. Kunstvoll verbindet er historische Ereignisse mit Kultur- und Kunstgeschichte. So erläutert er mit grosser Sachkenntnis die Nutzung einzelner Gebäude (231-235) und stellt sie in den Kontext der religiösen Praktiken vor Ort (230-231). Man erfährt einiges über Eleonore von Aquitanien, welche die Spätphase ihres Lebens in Fontevraud verbrachte (201-212), aber auch über ihre Darstellung in zeitgenössischen Fresken (210). Dieses umfassende Wissen Melots nicht nur über Fontevraud, sondern gerade auch über die Architektur, Kunst, Spiritualität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, macht die Lektüre der Histoire de l'abbaye de Fontevraud zu einem intellektuellen Hochgenuss. Es handelt sich bei dem Werk also um eine histoire publique savante - eine Public History im allerbesten Sinne.

Annalena Müller