Rezension über:

Benjamin Hitz: Ein Netz von Schulden. Schuldbeziehungen und Gerichtsnutzung im spätmittelalterlichen Basel (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Beiheft 256), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 445 S., 20 Farb-, 46 s/w-Abb., 72 Tbl., ISBN 978-3-515-13275-6, 80,00
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Rezension von:
Tanja Skambraks
Seminar für Mittelalterliche Geschichte, Universität Mannheim
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Tanja Skambraks: Rezension von: Benjamin Hitz: Ein Netz von Schulden. Schuldbeziehungen und Gerichtsnutzung im spätmittelalterlichen Basel, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/36967.html


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Benjamin Hitz: Ein Netz von Schulden

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Das Spätmittelalter war von Kredit und Schulden durchdrungen, so schrieb Bruno Kuske bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts. [1] Schulden und Kredit waren ubiquitär und verbanden Menschen miteinander. Schuldbeziehungen als soziale Beziehungen sind ein etabliertes Narrativ der vormodernen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. [2] In diese Forschungstradition reiht sich Benjamin Hitz mit seiner Monografie "Ein Netz von Schulden" ein und hinterfragt zugleich seine Gültigkeit.

Der Band widmet sich dem Thema am Beispiel der Baseler Gerichtsakten aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Der Autor behandelt zwei inhaltliche Ebenen: zum einen die Funktionsweise des (dem Rat unterstellten) Baseler Schöffengerichts in Bezug auf Konfliktfälle, die sich aus gescheiterten Schuldenbeziehungen ergaben. Auf der zweiten Ebene analysiert er die Praktiken des Aushandelns und die Akteure sowie verschiedene Schuldenarten, die Beziehungen, Herkunft, räumliche und soziale Nähe sowie das Geschlecht der Schuldner und GläubigerInnen.

Die Studie ist methodisch innovativ, da sie qualitative Quellenauswertung und quantitative Verfahren, wie die Netzwerkanalyse und Statistik, miteinander verbindet. Der Autor nutzt diese Methoden in einzelnen Kapiteln kenntnisreich und sehr reflektiert. Er analysiert mit einem durchgängig naturwissenschaftlichen Duktus die Querverbindungen aller möglichen Aspekte von Schuldenbeziehungen bis in kleinste Kapillare. Dabei behält er meist das Gesamtbild seiner Fragestellungen im Auge. Auch scheut er sich nicht davor, die Grenzen seiner Methodik immer wieder zu reflektieren, etwa wenn es um die mangelnde Interpretierbarkeit von Schuldenketten und wenig dichte Netzwerkstrukturen sowie die Repräsentativität der teils sehr kleinen Stichproben oder Verzerrungen durch Einzelfälle geht.

Benjamin Hitz gelingt es in den sechs Kapiteln seines Buchs verschiedene Themenbereiche rund um "Schulden vor Gericht" auf für die mittelalterliche Schulden- und Kreditgeschichte gewinnbringende Weise zu analysieren. Dabei stützt er sich auf zwei Stichproben aus den Jahren 1455 und 1497 (unter Hinzuziehung der zeitgleichen Steuerlisten), die ein differenziertes, ja fast schon verwirrendes Bild vom Schuldenmanagement in Basel aufzeigen. Die Akten tragen die Form von Schuldverschreibungen und Zahlungsversprechen (die kostenlosen und vor allem von Ärmeren genutzten Vergichte), Beschlagnahmungen fahrender Güter (Verbote) und Liegenschaften (Frönungen) sowie Klagen wegen Schulden und Urteile, welche meist Zahlungsaufforderungen waren. Diese Schriftlichkeit wurde ergänzt durch Eide und Zeugenaussagen (Kundschaften).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mehrheitlich kleinere und mittlere Schuldensummen vor Gericht verhandelt wurden, wobei der Großteil aller Beteiligten wohl aus der Stadt selbst stammte. Die Schuldner größerer Summen waren beim Adel, im Druckgewerbe und unter den Wechslern zu finden. Als Gläubiger größerer Summen traten vorrangig städtische Beamte und Gelehrte auf. Schuldner und Gläubiger kleinerer Beträge stammten allesamt aus dem Handwerkermilieu oder waren Kaufleute. Obgleich nicht mit Zahlen belegbar, zeichnet sich das Bild einer großen Geduld der Gläubiger ab sowie die vermittelnde und auf Ausgleich bedachte Rolle des Gerichts, das häufig Zahlungsaufschub und Fristverlängerungen gewährte statt eigentliche Strafen festzulegen. Der Gang von Gläubigern vor Gericht war eine "Ultima Ratio" (144). Die Schuldenverhältnisse waren asymmetrisch, d.h. Gläubiger, die klagten, waren häufig reicher als die Schuldner. Gerichte reproduzierten mithin Ungleichheit in der städtischen Gesellschaft (214).

Das auf die Einleitung folgende zweite Kapitel ("Schulden eingehen") behandelt die Vielfalt formeller und informeller Schulden, wie Verkaufskredite, Bardarlehen, Pachtzinsen und Löhne, Rentenkäufe und Hypotheken, Vorschusszahlungen, Verrechnungen sowie die eingesetzten Sicherheiten anhand der überlieferten Gerichtsakten. Das dritte Kapitel ("Schulden einfordern") verfolgt die Praxis der Schuldenverhandlung durch das Gericht sowie die (schriftliche) Belegung von Schulden. Im vierten Kapitel ("Gerichte nutzen") wendet sich der Autor den NutzerInnen des Gerichts zu, von denen 40% anhand der Steuerlisten identifiziert werden können. Mittels statistischer Analyse wird die Verbindung von Vermögenskategorien, räumlicher Herkunft und Geschlecht in Bezug auf die Beteiligung an den Gerichtsverfahren untersucht. Reiche Männer aus Basel waren demnach die Hauptakteure.

Kapitel fünf ("Fälle verhandeln") verfolgt einzelne Prozessschritte, wie Vertagungen, Vermittlung, über Beschlagnahmungen bis hin zu Verbannung und Schuldhaft. Dabei wird das Nebeneinander von außergerichtlichen Schlichtungsmaßnahmen und juristischem Vorgehen als wichtiges Charakteristikum des Schöffengerichts herausgearbeitet. Das Schöffengericht räumten den Beteiligten immer wieder Handlungsoptionen für die außergerichtliche Einigung ein und fällte nur selten abschließende Urteile.

Im sechsten Kapitel ("Schulden leben") analysiert Hitz schließlich die Netzwerkstrukturen der Schuldenakteure sowie die Zusammenhänge von Herkunft, Vermögen, Geschlecht und räumlicher Nähe von Gläubigern und Schuldnern anhand von Dichtematrizen.

Zwar bieten Netzwerke durch die Visualisierung von Strukturen eine Stütze für die gezieltere Identifikation interessanter Einzelfälle für die qualitative Untersuchung (285), dennoch ist ihre Aussagekraft häufig beschränkt, wie der Autor einräumt (280). So ist wenig überraschend, dass in einem Netzwerk Gläubiger wichtige Knoten mit mehreren Schuldenbeziehungen bilden. Die Schuldennetzwerke umfassen auch nicht alle Personen, zahlreiche von ihnen weisen keinerlei Verbindungen über einzelne Schuldverhältnisse hinaus auf, was das Narrativ der allgegenwärtigen dichten interpersonellen Verflechtung vormoderner Schuldenbeziehungen in gewisser Weise unterminiert. Auch die interessante Rolle von Drittpersonen ließ sich netzwerkanalytisch kaum erfassen. Neben der recht großen sozialen Distanz charakterisierte auch die räumliche Distanz die Baseler Schuldenbeziehungen.

Die Arbeit ist insgesamt überwiegend deskriptiv angelegt. Der Autor hat sehr viel Energie auf die Umsetzung seiner methodischen Ansätze verwendet. Obwohl das löblich ist, wünscht man sich an einigen Stellen des Buchs etwas mehr Interpretation der Ergebnisse. Hitz betont in seinem ebenfalls verhaltenen Fazit die Einbettung von Wirtschaft und Gesellschaft im Mittelalter. Zugleich postuliert er die "primär wirtschaftliche Dimension der Schuldenbeziehungen" (356). Diese zeigen uns selbstverständlich nur einen Ausschnitt der Realität, ein Vergleich mit anderen (etwa geistlichen) Gerichten der Stadt wird aufgrund der Quellenlage als unmöglich beschrieben. Problematisch ist auch die Analyse anderer Schuldformen, wie die Pfandleihe der Lombarden und Juden oder das Kreditwesen der Kaufleute. Die hierzu verfügbaren Quellen (Schuldenbücher) weisen kaum Überschneidungen mit den Gerichtsakten auf und suggerieren eher die außergerichtliche Klärung von Schuldfragen. Die Gerichte schließlich fungierten als Absicherungsmechanismen (freiwillige Gerichtsbarkeit), sie stellten Öffentlichkeit her und schlichteten vielfältige Schuldenbeziehungen.

Ein Kritikpunkt ist der Umgang mit den Kategorien "arm" und "reich", die leider zu wenig auf Zahlen (hier sind die Steuerlisten wenig hilfreich) gestützt verwendet wird. Zusätzliche Lohndaten hätten das Bild präzisieren können. Positiv hervorzuheben ist der umfangreiche Anhang und der Tafelteil mit Erläuterungen zur Methodik und Grafiken, die den Haupttext sehr entlasten. Das Buch ist eine methodisch innovative Studie zur vormodernen Geschichte informeller und formeller Kreditbeziehungen sowie zur Rolle städtischer Gerichte, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist.


Anmerkungen:

[1] Bruno Kuske: Die Entstehung der Kreditwirtschaft und des Kapitalverkehrs, in: Die Kreditwirtschaft. Erster Teil (= Kölner Vorträge über Kreditwirtschaft 1), Leipzig 1927, 1-79 (ND in: ders., Köln, der Rhein und das Reich. Beiträge aus fünf Jahrzehnten wirtschaftsgeschichtlicher Forschung, Köln / Graz 1956, 48-138).

[2] David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, aus dem Englischen von Ursel Schäfer / Hans Freundl / Stephan Gebauer, Stuttgart 2012; Gabriela Signori: Schuldenwirtschaft. Konsumenten- und Hypothekarkredite im spätmittelalterlichen Basel (= Spätmittelalterstudien 4), München 2015; Dies. (Hg.): Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz / München 2014; Jürgen Schlumbohm: Kreditsicherung und Schuldbeziehungen seit dem späten Mittelalter, in: Schuldenlast und Schuldenwert. Kreditnetzwerke in der europäischen Geschichte 1300-1900 (= Trierer Historische Forschungen 65), hg. von Gabriele Clemens, Trier 2008, 339-345.

Tanja Skambraks