Anette Baumann: Karten vor Gericht. Augenscheinkarten der Vormoderne als Beweismittel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2022, 240 S., 86 Farb-Abb., ISBN 978-3-534-27609-7, EUR 45,00
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Es gibt Bildgattungen, die sich kaum geläufigen Kategorien der Kunst- und Bildgeschichte zuordnen lassen. Die Augenscheinkarte ist eine von ihnen. Formal und technisch zwischen Landschaftsmalerei, -zeichnung und Kartografie changierend, hatten Augenscheinkarten ihren Platz historisch weder im künstlerischen noch im wissenschaftlichen Kontext, sondern im juristischen. Dieser wenig bekannten (Bild-)Quellengattung hat die Rechtshistorikerin Anette Baumann eine Monographie gewidmet - die erst zweite in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. [1]
Zwischen dem späten 15. und dem frühen 19. Jahrhundert gaben Prozessparteien im Streit um Landnutzung, Zollrechte, Besitzverhältnisse, Übergriffe und andere Fälle Augenscheinkarten in Auftrag. Das strittige Gebiet oder die Ereignisorte wurden dafür zunächst von einer Kommission begangen - in Augenschein genommen. Zeichner, darunter oft namhafte Künstler, Landvermesser und Geografen, dokumentierten die Begehung sowie die räumliche Situation vor Ort im Bild - in Augenscheinkarten. Vor Gericht kam diesen Karten anschließend hohe Beweiskraft zu, neben Zeugenaussagen und Sachbeweisen.
Als Bildgattung sind Augenscheinkarten wenig bekannt. In der monumentalen History of Cartography ist ihnen kein eigenes Kapitel gewidmet [2] und in Nachschlagewerken wie der Enzyklopädie der Neuzeit gibt es keinen Eintrag. Sie fallen auch durch das Raster der monografischen Künstlerforschung, wie das Beispiel Melchior Lorchs zeigt, der eine eindrucksvolle Karte des Elbverlaufs anfertigte (55, 58, 155), deren Funktion als Augenschein aus dem Oeuvrekatalog allerdings nicht hervorgeht. [3]
Dass Augenscheinkarten in der Forschung bislang so wenig präsent sind, mag verschiedene Gründe haben: Sie lassen sich kaum in ein Narrativ fortschreitender Erfassung des Raumes durch Vermessung und Kartografie einschreiben. Sie sind nicht einem allgemeinen - herrschaftlichen oder wissenschaftlichen - Interesse zuzuordnen, sondern individuell sehr spezifisch auf bestimmte Gerichtsprozesse und die daran geknüpften Partikularinteressen bezogen. Zudem waren sie von vornherein nicht für eine breite Rezeption bestimmt, waren weder für repräsentative Zwecke noch für die Kommunikation von Wissen gemacht, sondern allein für die am jeweiligen Prozess beteiligen Parteien und Juristen. Dies prägt die Zugänglichkeit dieser Quellengattung noch heute. Anders als andere Bilder, etwa in Kartensammlungen oder Grafikkabinetten, sind sie nicht einzeln erfasst, sondern bilden stets einen - nicht eigens sichtbaren - Bestandteil von Akten. Daher sind sie nur mit großem Aufwand zu finden und zu erschließen. Hinzu kommt, dass die Akten des Reichskammergerichtes, des höchsten Gerichtes im Heiligen Römischen Reich, nach dessen Auflösung 1806 auseinandergerissen wurden und heute über 48 Archive in Deutschland und anderen Ländern verstreut sind (25).
Anette Baumann hat für ihr Buch zahlreiche Augenscheinkarten aus diesem Bestand recherchiert und aufgearbeitet. Ihre Darlegungen sind anschaulich auf viele konkrete Fallbeispiele gestützt, und hochwertige Abbildungen der bislang oft unpublizierten Karten bereichern die Lektüre.
Nach einer Heranführung an die Augenscheinkarten des Reichskammergerichts und ihre Überlieferungsgeschichte thematisiert Baumann eingehend die historischen Praktiken und Verfahrensweisen, in die sie eingebettet waren: von den Modalitäten der Auftragsvergabe über ihre Anfertigung bis hin zu ihrer Auswertung vor Gericht. Sie analysiert auch die Darstellungsmodi von Raum, die in Augenscheinkarten zur Anwendung kamen: Unter dem Leitgedanken, dass sie eine performative Augenzeugenschaft vermitteln, beschreibt sie, wie die Karten den Raum für die Rezeption erschließen, etwa indem sie den Ablauf der Ortsbegehung mit den wichtigsten Stationen an Streit- oder Ereignispunkten in der Übersicht der geografischen Situation aufzeigen. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit professioneller gedruckter Karten im 18. Jahrhundert änderte sich die Nutzung von Karten vor Gericht: Vielfach wurden sie nicht mehr eigens in Auftrag gegeben, sondern man griff auf bestehendes Material - gedruckte Karten aus Verlagshäusern wie etwa Homann - zurück (65). Als Abschluss ihrer Analyse der Praktiken rund um Augenscheinkarten differenziert die Autorin die Art von Streitfragen, für die Augenscheinkarten eingesetzt wurden, beispielsweise Streit um Landeshoheit, um Wassernutzungsrechte oder Besitzrechte.
Anette Baumann formuliert durchaus berechtigt den Anspruch, dass die Erforschung der Augenscheinkarten nicht nur an eine Kulturgeschichte von Recht, Herrschaft und Verwaltung, sondern auch an eine Geschichte des Sehens und an die Wissenschaftsgeschichte anschlussfähig sei (138). Ergänzen könnte man, dass sich auch jüngere kunsthistorische Ansätze zum Handeln mit Bildern oder zur Evidenz von Bildern an das Thema anschließen liessen. Von einer bildwissenschaftlichen Warte aus würde man sich eine noch systematischere Analyse dessen wünschen, was die Visualisierungen leisten sollten: zu bezeugen, zu argumentieren, Evidenz hervorzubringen.
Zum Abschluss ihrer Studie eröffnet Baumann hierfür Ansatzmöglichkeiten. Sie legt dar, dass viele Richter des Reichskammergerichtes im 16. Jahrhundert - als Teilnehmende an einem breiteren gelehrten Diskurs - an Phänomenen der Optik, der Perspektive, an Zusammenhängen von Sichtbarkeit, Sehen und Verstehen interessiert waren (169-177). Dass dies auch in ihre Beurteilung der Verlässlichkeit von Augenscheinkarten einfloss, ist eine reizvolle Überlegung. Die abschließenden kurzen Kapitel ihrer Studie bieten weitere Ansatzpunkte, von denen aus sich das Thema weiterdenken ließe: Die Rolle eines in der Frühen Neuzeit im Kontext einer Hierarchie der Sinne behaupteten Primats des Sehens für den Status der Augenscheinkarten; das historische Verständnis der Begriffe Evidenz, Tatsache und Beweis; die allmähliche Ablösung von Zeugenaussagen durch Expertengutachten, zu denen auch Augenscheinkarten gehörten, in Gerichtsverfahren.
Karten vor Gericht macht deutlich, dass der Augenschein, das heißt eine komplexe Form visueller Evidenz, integraler Bestandteil der vormodernen Gerichtsbarkeit war. Es gelingt der Autorin, die Augenscheinkarten - auch für nicht rechtshistorisch vorgebildete Leser:innen - in ihren Fertigungs- und Nutzungszusammenhang einzuordnen und die Praktiken zu beleuchten, die sich mit dem Einsatz dieses visuellen Materials vor Gericht verbanden. Als reiche Materialstudie erschließt das Buch viele Fallbeispiele samt ihrem Prozessablauf für die weitere Forschung. Anette Baumanns Monografie eröffnet damit weitere Untersuchungsmöglichkeiten, etwa bildwissenschaftliche und -theoretische Fragen zu diesem spezifischen Material zu entwickeln. Lohnend wäre auch, die Praxis des Augenscheins jenseits des Reichskammergerichtes als europaweites Phänomen in den Blick zu nehmen. [4]
Anmerkungen:
[1] Thomas Horst: Die älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographiehistorische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte, München 2009. Bei Horst lag der Fokus darauf, die Gegenstandsbereiche der Augenscheinkarten in einen systematischen Überblick zu bringen und ihren Quellenwert für anderweitige historische Fragestellungen wie Kultur- und Klimageschichte zu eruieren.
[2] David Woodward (Hg): The History of Cartography Bd. 3. Cartography in the European Renaissance, Chicago 2007.
[3] Erik Fischer: Melchior Lorck 4 Bde. Copenhagen 2009, Bd. 1, S. 118. Dort ist die Karte in der Biografie Lorchs erwähnt, jedoch nur vage mit "reconnaisance missions" in Verbindung gebracht. Der eigentliche Katalogeintrag fehlt, da der geplante fünfte Band des Catalogue raisonné nicht realisiert wurde.
[4] Siehe etwa Beispiele aus Frankreich in Kat. Ausst. Juliette Dumasy-Rabineau, Nadine Gastaldi und Camille Serchuk (Hgg): Quand les artistes dessinaient les cartes. Vues et figures de l'espace français, Moyen Âge et Renaissance, Paris 2019.
Annette Kranen