Daniel Fischer: Stadtbürgerlicher Eigensinn in der DDR? DDR-Stadtjubiläen zwischen parteipolitischer Intention und kommunaler Selbstdarstellung (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 68), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2022, 379 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-96023-479-1, EUR 55,00
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Kim Phillips-Fein: Fear City. New York's Fiscal Crisis and the Rise of Austerity Politics, New York 2017
Die Frage, wie sich Herrschaft als soziale Praxis in der DDR (im Anschluss an Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger) konstituierte, ist mit Blick auf jüngst wieder entfachte Deutungskämpfe um die DDR-Vergangenheit weiterhin von höchster geschichtswissenschaftlicher und -politischer Relevanz. Städte eignen sich als Forschungsgegenstände hierfür in ganz besonderem Maße, entfaltete sich im städtischen Raum doch ein enormes Spannungsfeld zwischen den politischen Herausforderungen in den vielfach kriegszerstörten Kommunen, dem eng mit der baulichen Kultur verbundenen starken Traditionsbewusstsein, dem Repräsentationsbedürfnis der SED, der gesellschaftlichen Utopie der Hegemonialpartei und der Art und Weise ihrer Umsetzung in den Bahnen der sozialistischen Diktatur. Entsprechend fanden Konflikte um die Baupolitik der SED sowie Initiativen "von unten" in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit. Daniel Fischers Dissertation fügt sich in diesen Forschungsstrang hervorragend ein, indem er ein Thema erstmals umfassend behandelt, das bislang nur im Rahmen von Aufsätzen und Einzelfallstudien bearbeitet worden ist. Dass Stadtjubiläen nicht nur der Repräsentation von Herrschaft und der Popularisierung der SED-Politik dienten, sondern eine bislang ungeahnte Vielfalt von politischer Agency ermöglichten, demonstriert die Studie auf eindrücklich differenzierte und theoretisch versierte Weise. Eine große Stärke des Buches ist, dass sich Fischer nicht nur auf die großen Metropolen und ihre hervorragenden Jubiläen (zum Beispiel Dresden 1956, Leipzig 1965 und Ost-Berlin 1987) konzentriert, sondern auch kleinere und Mittelstädte in die Analyse einbezieht.
Basierend auf den theoretischen Überlegungen des französischen Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre zur sozialen Produktion von Raum, entfaltet Fischer seine zentrale These, dass "stadtbürgerlicher Eigensinn ein wesentliches Merkmal der DDR-Gesellschaft war" (17), in vier Hauptkapiteln. Dabei beleuchtet Fischer zunächst, mit welchen Methoden die SED das Konzept der "sozialistischen Stadt" implementierte (Kapitel 2), widmet sich dann den Rahmenbedingungen, der Vorbereitung und Organisation von Stadtjubiläen (Kapitel 3), untersucht anschließend, auf welche Art und Weise sich Eigensinn im Stadtjubiläum ausdrückte (Kapitel 4), und analysiert abschließend Konzepte und Praktiken des historischen Festzugs als ein zentrales Element von Stadtjubiläen (Kapitel 5). Der Vorteil dieser Kapitelstruktur liegt in der vergleichenden Darstellung von Stadtjubiläen und der Herausarbeitung von Kontinuitätslinien und Veränderungen in der DDR. Von Nachteil ist jedoch, dass einzelne Stadtjubiläen in verschiedenen Kapiteln unter verschiedenen Fragestellungen aufgegriffen werden, wobei der jeweilige Gesamtzusammenhang des Jubiläums etwas verloren geht. Zudem kommt es immer wieder zu Redundanzen, so etwa bei der Zäsursetzung, auf die Fischer immer wieder zu sprechen kommt: die begrenzte Durchdringung städtischer Jubiläen mit parteilichen Machtsymbolen in den 1950er Jahren, die 1960er Jahre als Hochphase der symbolischen Besetzung von Stadtjubiläen durch die SED und die Zeit seit den 1970er Jahren als Renaissance lokalhistorischer Bezugnahmen analog zur geschichtspolitischen Öffnung der SED im Zuge der Debatte um Erbe und Tradition. Inwiefern diese recht schematische Zäsursetzung im Einzelfall trägt und gegebenenfalls relativiert werden muss, könnten weiterführende (diachron angelegte) Studien, etwa zu verschiedenen Stadtjubiläen in einer Stadt im Zeitverlauf zeigen. Solche lokalhistorischen Tiefenbohrungen hätten zudem den Vorteil, differenzierter nach Kontinuitäten und Wandlungen in Bezug auf die Zeitphasen vor 1945 und nach 1989/90 fragen zu können. Die Tabelle im Anhang der Studie, die sämtliche Stadtjubiläen während der DDR auflistet, kann solche weiterführenden Untersuchungen anregen. Auch die an sich verdienstvolle Nutzung von Bildern und Artefakten (zum Beispiel Souvenirs) als historische Quellen lässt noch Luft nach oben. Vor allem bleibt deren Alltags- beziehungsweise Aneignungsgeschichte unterbelichtet.
Diese Kritikpunkte zeigen aber vor allem, welches Potential in der Erforschung von Stadtjubiläen in der DDR liegt, und Fischer gelingt es, einen anregenden Beitrag hierzu zu leisten. Dabei kommt er zu spannenden Einsichten - auch über die in vielen anderen Studien schon mehrfach gewonnene Erkenntnis hinaus, dass die SED es zu keiner Zeit vermocht habe, historisch gewachsene Traditionen und tradierte Kulturmuster gänzlich aufzulösen. Vielmehr versuchte die Partei mit der Zeit, diese in ihr Repräsentationsbedürfnis zu integrieren, sofern sie diesem nicht gänzlich entgegenstanden. Dabei kam es aber auch zu neuen Spannungen. So öffneten sich Stadtjubiläen in den 1970er Jahren mit neuen musikalischen Angeboten auch jugendlichen Subkulturen, womit Stadtjubiläen auch zu Anziehungspunkten von als "Trampern" und "Gammlern" verschrienen Jugendlichen wurden, die mit ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Raumaneignung (zum Beispiel durch öffentlichen Alkoholkonsum) nicht nur die sozialistischen Werte untergruben, sondern auch das Ordnungs- und Sauberkeitsempfinden sowie das bürgerlich geprägte Repräsentationsbedürfnis großer Teile der Stadtgesellschaften störten. Dagegen waren andere Formen von Eigensinn, wie Fischer vor allem im letzten Kapitel zum Festzug zeigt, mit stadtbürgerlichem Empfinden sehr gut vereinbar. Gerade die aus pragmatischen wie ideologischen Gründen gewünschte Partizipation vieler Bürgerinnen und Bürger an den Jubiläumsinszenierungen ermöglichte diesen Einflussnahmen auf die Darstellung stadthistorischer Ereignisse und deren Rezeption durch das Publikum. Mit zunehmendem Verfall der Altstädte und der Infrastruktur geriet das Bedürfnis der SED, den "Sieg des Sozialismus" nach außen zu repräsentieren, jedoch immer mehr in Spannung zum städtischen Alltag und verstärkte vor allem in den 1980er Jahren damit einen urbanen Eigensinn, der den Autoritätsverlust der Staatspartei mitbeschleunigte. Mit diesem Urteil liegt Fischer ganz auf der Linie jüngerer stadtgeschichtlicher Forschungen zur DDR, die er nicht nur thematisch ergänzt, sondern auch methodisch bereichert. Die Studie regt an, tiefer zu bohren und noch stärker auf die Rezeptionsweisen von Stadtjubiläen einzugehen sowie Nachwirkungen sozialer Praktiken etwa auf gegenwärtige Reenactments zu untersuchen.
Christian Rau