Amerigo Caruso / Birgit Metzger (Hgg.): Grenzen der Sicherheit. Unfälle, Medien und Politik im deutschen Kaiserreich, Göttingen: Wallstein 2022, 292 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3906-4, EUR 36,90
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Vor Unfällen ist niemand gefeit. Sie gehören zum Alltag und sind doch nicht alltäglich. Je nach Schwere evozieren sie Beschädigungen, seelische Belastungen, traumatische Erfahrungen. Bisweilen gar führen sie zum Tod. Sie hinterlassen Spuren, graben sich ein in das Gedächtnis der Betroffenen und der Gemeinschaften, in denen sie heimisch sind, sie beschweren individuelle ebenso wie kollektive Erinnerungen. Als Einbrüche von Gewalt setzen sie gewohnte Mechanismen außer Kraft. Das schlägt die Menschen für kürzere oder längere Zeit in den Bann. Vor allem wirft es Fragen auf. Wer und was hat Schuld, sind es einzelne, von technischen Konstruktionen überforderte Personen, ist es Gedankenlosigkeit, in Routine versandeter Mangel an Aufmerksamkeit? Welche Verantwortung trägt der Staat, denn schließlich ist er es, der für die Sicherheit im Lande zu sorgen hat. Im Zeitalter der beginnenden und sich beschleunigenden Medienrevolution sorgen Presse, später dann Radio und Wochenschau für ein verstärktes öffentliches Echo. Diese prägen Bilder, Wahrnehmungen und Deutungen, treiben die Verwaltung an, bestehende Lücken zu schließen und infrastrukturelle Gefahrenpotentiale zu beseitigen. Sie sind jedoch nicht nur Quellen rationaler Erklärungen, sondern auch solche der Mythologie, angefüllt mit Polemik, Bewunderung oder Verdammung, mit Sensationslust und Sensationsgier.
In diesem thematischen Umfeld ist der von Amerigo Caruso und Birgit Metzger besorgte Sammelband angesiedelt. Drei Felder werden dabei von den Autorinnen und Autoren bewandert: "Unfälle, Medien und Politik" im Kaiserreich. Strikt trennen lassen sich diese nicht. Die Schwerpunkte, denen die Aufmerksamkeit gilt, werden mit unterschiedlicher Intensität abgearbeitet. Eine "Unfallgeschichte" (7) in den Epochen nach 1870/71 biete die Chance, notieren die Herausgeber, die "Erwartungen an individuelle und kollektive Sicherheit", auch die Reaktionen auf "physische Risiken" mit dem "Charakter des ersten deutschen Nationalstaats und den Ambiguitäten der Moderne" (7f.) zu verknüpfen - ein anspruchsvolles, weitgefasstes Programm.
Den Auftakt macht Julia Moses mit Überlegungen zum Problem von "Risiko und Arbeit in transnationaler Perspektive". Das Augenmerk richtet sich auf eine "Genealogie der Haftung" (34). In den Epochen der Industrialisierung mehren sich die erfassten Unfälle am Arbeitsort. Durch eine zunehmend konzentriertere Wahrnehmung steigert sich das Problembewusstsein, das durch die Berichterstattung der aufkommenden Massenmedien zusätzlich stimuliert wird. Das weckt den Ehrgeiz der Staaten, die sich schon um der sozialen Stabilität willen anschicken, die zu gewährende Entschädigung gesetzlich zu regeln. Dies mausert sich nach und nach "zu einem allgemeinen sozialen Recht" (45), was zugleich die unerschöpfliche und stets von Neuem aktuelle Frage nach den Grenzen der Leistungsfähigkeit wie der Leistungsbereitschaft aufwirft.
Dagmar Ellerbrock verfolgt die Konsequenzen, die aus Schießunfällen erwachsen. Diese offenbaren Schwachstellen administrativer "Sicherheitskonzepte" (56), denen man je länger desto kontinuierlicher zu Leibe rückt. Darin spiegelt sich nicht allein das Bedürfnis, einst unberechenbaren Zwischenfällen den Kampf anzusagen, sondern auch die zentrale Aufgabe der staatlichen Ordnung zu lösen, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, was jedoch Debatten befeuert, wo wünschenswerte Initiativen umschlagen in unerwünschte Reglementierung. Militärunfälle stehen im Vordergrund der Überlegungen von Sebastian Rojek und Birgit Metzger. Jener analysiert den Untergang des "Panzerschiffs Großer Kurfürst" mit 269 Seeleuten im Mai 1878, der Diskussionen über die Verantwortung des Staatssekretärs von Stosch und ein gewisses Maß an Parlamentarisierung auslöste, die in der Verfassung des Kaiserreichs allerdings nicht vorgesehen war. Birgit Metzger wendet sich Militärunfällen zu und verbindet das mit der Absicht, sich wandelnden "Sicherheitserwartungen" (119) auf die Spur zu kommen. "Eine Unfallgeschichte des Militärs", so das Resümee, berge das "Potential, Praktiken im Umgang mit Menschen, der Umwelt und Technik sichtbar zu machen" (119) und damit zugleich den Blick für Wandlungsprozesse der "Risikoakzeptanz" (119) zu schärfen.
Von "Unfallpolitik und Krisenkommunikation" (121) handelt der zweite Großabschnitt des Buches. Er beginnt mit dem Absturz eines Luftschiffs der Firma Zeppelin im Herbst 1913. Ausgeleuchtet werden von Jürgen Bleibler die "Schwächen des Systems" (126), die "Konflikte" zwischen Marine und dem Unternehmen sowie der "mediale Umgang" mit einem als "nationale Katastrophe" (133) empfundenen Ereignis. Michael Farrenkopf betrachtet Unglücke im Bergbau, nicht zuletzt deren unzureichende Behandlung durch die zeitgenössische Presse. Verantwortlich, so das Fazit, waren weniger individuelle Fehler als vielmehr die "Unternehmer" und die "Bergbehörden" (167). Ebenfalls den Blick auf die Wirtschaft lenkt Fabian Trinkhaus, der sich den "Arbeitsrisiken" (169) in der Eisen- und Stahlindustrie zuwendet. Dort waren Unfälle an der "Tagesordnung" (175). Exemplifiziert an Verhältnissen im Saargebiet, fällt Licht auf den mächtigen Grubenbaron, den Freiherrn von Stumm und die von diesem geprägte Betriebs-, Sicherheits- und Versicherungspolitik.
Im dritten Abschnitt wird das Ineinanderwirken von "Unfallnarrativen und Medien" (189) diskutiert. Amerigo Caruso informiert über das Schicksal des sächsischen Königs Friedrich August II., der in Tirol einen Unfall mit seiner Kutsche nicht überlebte. Das Unglück ereignete sich, wie der Autor hervorhebt, "in einer Übergangsphase zwischen vormoderner und moderner Deutung, Medialisierung und politischer Funktionalisierung" (211). Dabei oszillierte die Interpretation zwischen Beschwörung des Schicksals, das der Monarch erlitten hatte, und nüchternem "Nachrichtenjournalismus", der sich von Tendenzen nachträglicher Verklärung freizuhalten suchte.
Nochmals den Unfällen mit Zeppelinen gilt die Aufmerksamkeit von Rüdiger Haude, dieses Mal zentriert auf "Medialität" (213) und die darin verbreiteten Spielarten nationalistischer Verklärungen. Ein wiederum weithin nachhallender Einzelfall, der Fliegertod Otto Lilienthals, ist Thema von Peter Busse und Bernd Lukasch. Auch hier stehen Berichte in den Medien im Vordergrund, über rasch verblassenden, später dann im Nationalsozialismus strahlenden Ruhm. Clemens Zimmermann bündelt den Abschnitt mit einem zusammenfassenden "Ausblick" auf die "Medialität des Unfalls" (255). Es sei noch nicht gelungen, konstatiert er, "ein überschaubares Forschungsfeld herzustellen". Die Literatur, auf die er sich bezieht, zeigt die "Multilateralität der Nachrichtenflüsse" (267), die viel Raum gewähren dürfte für weitere, zumal angemessen systematisierende Studien, dabei unter anderem, was am Ende nach elf informativen Aufsätzen der Kommentar von Christine G. Krüger hervorhebt, vielleicht eine Frage berücksichtigend wie die nach "spezifisch weiblichen Unfallarten" (277).
Jens Flemming