Karin Orth: Nichtehelichkeit als Normalität. Ledige badische Mütter in Basel im 19. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2022, 336 S., 2 Kt., ISBN 978-3-8353-5234-6, EUR 39,90
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Der methodische Schlüssel zu dem Buch liegt in dem Begriff "mikrohistorischer Ansatz" (10), der von der Autorin zur Charakterisierung ihres Werkes verwendet wird. Darunter fallen Studien zu einem geographisch eng umgrenzten Gebiet, das mit einer Fragestellung facettenreich bis ins kleinste Detail dargestellt und analysiert wird. Das Buch stellt jedoch nicht nur ein Gebiet dar, sondern zwei: Einmal Südwestbaden, und da werden zwei Regionen untersucht, das protestantisch geprägte Markgräfler Land und im Kontrast dazu der ehemals zu Vorderösterreich gehörige und daher katholisch geprägte Hotzenwald und das Klosterland. Die nahe Großstadt Basel ist das zweite Gebiet und so gliedert sich denn auch das Buch in zwei Hauptteile.
Die Fragestellung ist für beide Teile dieselbe. Sie steht schon im Titel: "Nichtehelichkeit als Normalität". Im Genaueren: Wie gestalteten sich Ehelichkeit und Unehelichkeit als Lebensform im Badischen und in der nahen Großstadt? Der Bezug der beiden Teile aufeinander wird durch die zusätzliche Fragestellung hergestellt, wie schon im Badischen vorhandene Lebensformen von den ledigen Müttern beim Zuzug in die Großstadt beibehalten und dabei auch modifiziert wurden. Ergebnis: Personen aus denjenigen Regionen im Badischen, d.h. in den katholisch geprägten, in denen Unehelichkeit traditionell weit verbreitet war (über 60 Prozent, Umschlagtext), behielten diese Lebensform auch in der Stadt bei und umgekehrt Personen aus anderen, protestantischen Regionen im Badischen, in denen Unehelichkeit nicht so verbreitet war, praktizierten auch diese Lebensform signifikant weniger. Freilich änderten die Lebensumstände in einer großen Stadt die Verhaltensformen aller. Es gab eben viel mehr Möglichkeiten für Männer und Frauen, "Bekanntschaften" zu machen, Begegnungen wurden flüchtiger und viel häufiger "zum Spaß" eingegangen.
Dazu werden die Lebensumstände sehr vieler, namentlich genannter Frauen im Badischen und in Basel und ihre vielfältigen Verhältnisse zu Männern mikroskopisch sehr breit dargestellt. Vielleicht auch zu breit, weil sich vieles strukturell wiederholt. Quellenbasis sind vor allem Akten im Bereich der Strafverfolgung und der Kirchenzucht. Ego-Dokumente fehlen wie so oft völlig, wenn es um die Lebensumstände unterer Schichten geht, die eben nichts Schriftliches hinterlassen haben.
Indes: Die Breite der Darstellung hat ihre Vorteile. Es entsteht ein sehr anschauliches, detailreiches, sehr pralles Lebensbild der alltäglichen, ärmlichen Lebensumstände unterbäuerlicher und -bürgerlicher Frauen, die ihren badischen Heimatort verlassen haben, um in der großen Stadt - vermeintlich - ihr Glück zu machen, die keine Ehe eingehen durften und mitunter auch nicht wollten (Nichtehelichkeit als Normalität eben). Da erfährt man viel Wissenswertes, etwa über behördliche Sanktionen der Stadt Basel, die Heiratsverbote für untere Schichten und insbesondere für zugewanderte Nicht-Ortsansässige durchsetzen wollte, und über die Rigorosität, wie Behörden in Basel trotz aller Verbote immer vorhandene geschlechtliche Beziehungen sanktionierten: So in Ehegerichten mit mehrtägigen Gefängnisstrafen. Diese Gerichte wurden von ledigen Müttern in ihrer Not angerufen, um von den Vätern Unterhalt zu erstreiten. Die ledigen Mütter und auch die Väter wurden immer bestraft. Die Beschuldigten, die in der Regel bitterarm waren, mussten für die Prozesskosten aufkommen. In Einzelfällen wurden ihnen sogar ihre goldenen Ringe abgenommen, ein selten vorkommendes Unterpfand der Zuneigung derer, die nicht heiraten durften.
Zu den detailreichen Lebensumständen, von denen die meisten Leser vielleicht zum ersten Mal erfahren, gehörten die Umstände der Niederkunft. Oft genug teilten Frauen als Schlafgänger mit einer anderen Frau das Bett, das heißt nicht einmal ein eigenes Bett hatten sie. So kamen Frauen in Hausfluren nieder und gar nicht selten auf dem Abtritt, wobei der "Abgang" oft genug gleich in der Gülle entsorgt wurde. Dies war nur eine unter vielen anderen Formen der häufig stattfindenden Kindstötung. Sie wurden mit mehrjährigen Gefängnisstrafen in Ketten sanktioniert.
Man erfährt viel über die Strategien der Väter, sich der ohnehin dürftigen Unterhaltszahlung zu entziehen. Die "Weibsperson" war eben "liederlich" und hatte mehrere "Bekanntschaften" - das waren zwei Vorwürfe unter vielen. Auch verschiedene Formen von Abtreibungen treten uns vor Augen. Gar nicht selten führt es schon zu einer Frühgeburt, die nicht lebensfähig ist, wenn die Frau absichtlich sehr schwere Gewichte hob, was bekannt war und praktiziert wurde.
Auch über die Lebensumstände der Kinder erfahren wir vieles, sofern sie denn weiterlebten. Sie wuchsen in der Regel nicht bei ihren Müttern auf, die arbeiten mussten. Diese gaben ihre Kinder gegen geringes Entgelt zur Kost an fremde Leute, die Kinder aufzuziehen als Gewerbe ausübten, wobei dann die Kinder häufig verwahrlosten und unterernährt waren. Mit sechs Jahren war es mit dem Kinderleben in der Kost vorbei. Anschließend mussten sie z.B. als Hütekind ihren Lebensunterhalt selber verdienen. Aber oft genug starben die vernachlässigten Kinder - gar nicht so ungern gesehen - eines natürlichen Todes.
"Nichtehelichkeit als Normalität" war üblich in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts. Im dritten Drittel ändert sich dies. Heiratsverbote entfielen und unterbürgerliche Schichten übernahmen Formen bürgerlicher Ehebeziehungen. Alles in allem: Eine ungemein facettenreiche Darstellung. Demgegenüber tritt die Analyse ein wenig zurück. Manche Bezüge hätten hergestellt werden können, z.B. hätte der signifikante Unterschied zwischen benachbarten protestantischen und katholischen Regionen im Badischen, den Orth sogar anspricht, in den Zusammenhang anderer, lang bekannter konfessionspolitischer Untersuchungen (z.B. Nipperdey) gebracht werden können.
Die Arbeit ist in der Einleitung zwar eingebettet in den größeren Forschungszusammenhang der Heiratsverbote und der Lebenssituation unterbürgerlicher und unterbäuerlicher Schichten, insbesondere der Frauen. Aber so manche Bezüge zu anderen Regionen, etwa zum zeitgleichen, weitverbreiteten Konkubinat im Niederbayerischen (Passau) mit ebenso hohen unehelichen Geburtenzahlen werden nicht hergestellt. Natürlich kann man gerade bei mikrohistorischen Untersuchungen viel wünschen, was noch hätte berücksichtigt werden können. Aber: ars longa, vita brevis und eine mikrohistorische Studie ist eben regional begrenzt.
Fazit: Karin Orts Buch ist eine erkenntnisfördernde, mikrohistorische Studie zur erschütternden Lebenssituation vieler lediger, unterbürgerlicher und unterbäuerlicher Mütter. Diese Lebensverhältnisse standen noch nie so facettenreich und mit so mit vielen Einzelschicksalen belegt im Fokus einer Untersuchung, auch weil die Quellenlage dazu so schwierig ist. Die Quellen gefunden und der Forschung zugänglich gemacht zu haben ist ebenfalls ein großes Verdienst der Arbeit.
Manfred Hanisch