Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933, Berlin: Suhrkamp 2022, 681 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-518-43054-5, EUR 36,00
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Mit "Der Liebe und dem Leid" hat der Medizinhistoriker Rainer Herrn eine umfangreiche Studie über das Berliner Institut für Sexualwissenschaft (IfS) vorgelegt. Titelgebend ist der Leitspruch des 1919 von dem Berliner Arzt Magnus Hirschfeld gegründeten Instituts, dessen erste umfassende Geschichte Herrn veröffentlicht hat. Die Studie basiert vorwiegend auf dem vor den Nationalsozialisten geretteten Teil des Institutsarchivs. Herrn rekonstruiert in fünf chronologisch angeordneten Kapiteln Aufbau, Etablierung und Zerstörung der Einrichtung, die sich der juristischen Neubewertung von Sexualität und der Entwicklung neuer Therapien für unter ihrer Sexualität Leidende verschrieben hatte.
In der gut 60 Seiten langen Einleitung umreißt der Autor Hirschfelds Werdegang und stellt die florierende medizinische Disziplin der Sexualwissenschaft sowie die sich parallel formierende Bewegung für Sexualreform seit der Jahrhundertwende vor. Hirschfeld verknüpfte sein wissenschaftliches Interesse an sexuellen Identitäten und Orientierungen mit einer naturrechtlich motivierten Entpathologisierung von männlicher Homosexualität und dem politischen Ziel der Streichung von § 175 RStGB. Sein Wirken, das arbeitet Herrn präzise heraus, war von dessen unbedingten Glauben an die Biologie durchzogen. Das theoretische Fundament des Instituts bildete Hirschfelds Geschlechtersystematik, nach der es männliche und weibliche physische, psychische und soziale Eigenschaften gebe, die in jeglicher Kombination denkbar seien. In einer eigenen Hochrechnung kam Hirschfeld auf über 43 Millionen mögliche "Sexualtypen" (39). Die Vorstellung einer binären Geschlechterordnung wurde somit am IfS abgelöst von der eines Kontinuums.
Von 1919 bis 1922 konzentrierte sich das Ärzteteam des Instituts vor allem auf die Forschung zu den hormonellen Ursachen der sexuellen Zwischenstufen. Bei der Erforschung von Sexualität gingen physiologische und psychologische Thesen und Therapiemethoden Hand in Hand. Allerdings lösten auf der physiologischen Seite Medikamente chirurgische Eingriffe zunehmend ab. Seit 1920 arbeitete der Institutsarzt Arthur Kronfeld zunächst mit der Bayer AG, dann mit der Sicco AG zusammen. An den Patientinnen und Patienten wurden neu entwickelte Medikamente zur Therapie vor allem von Erektionsproblemen, vorzeitigem Samenerguss, Vaginismus und Asexualität getestet. Dabei experimentierte man mit Arsen, Strychnin und Yohimbin enthaltenden Medikamenten. Herrn zeichnet nach, dass die Institutsärzte offen ihr Unwissen darüber eingestanden, ob "Heilerfolge" den neuen Arzneimitteln, deren Suggestivwirkung oder der begleitenden Psychotherapie zuzuschreiben seien. Weder zeigt er jedoch ethische Bedenken gegen die Medikamententest auf, noch problematisiert er das Fehlen dieser. Im weiteren Verlauf der 1920er Jahre nahmen die bereits bei Institutsgründung ins Auge gefassten Ehe- und Sexualberatungen zu. Im Mittelpunkt entsprechender Gespräche standen dabei zumeist Verhütungsfragen und weniger erbbiologische Themen.
Die Bandbreite der Tätigkeiten des Instituts war ebenso enorm wie dessen Adressatenkreis: Personen jeglicher sexuellen Orientierung und Identität wandten sich an das IfS. Über chirurgische, psychologische und medikamentöse Therapien, Gerichtsgutachten, akademische Lehre und Tagungen sowie populäre Vorträge und lebenspraktische Beratungen hinausgehend bot das Institut Menschen, die aufgrund ihrer Sexualität aus der Gesellschaft fielen, Logis und mitunter auch Anstellung etwa in Archiv oder Hauswirtschaft.
All dies endete im Mai 1933. Hirschfeld und das Institut wurden von den Nationalsozialisten "geradezu zum Symbol des auszulöschenden Weimarer Geistes stilisiert" (458). Bereits am 6. Mai, dem Tag der "Büchersammelaktion", wurde das Institut geplündert und zerstört; eine entwendete Bürste Hirschfelds wurde vier Tage später als Trophäe im Fackelzug mitgetragen, bevor sie zu den brennenden Büchern geworfen wurde. Eine Lücke bei den Tätigkeitsberichten mit Jahresrechnung und die Entziehung der Gemeinnützigkeit führten zu einer Steuerschuld und in der Folge zur scheinlegitimen Konfiszierung der Institutsgebäude. Hirschfeld selbst war zu diesem Zeitpunkt bereits in Paris, und kehrte nicht mehr nach Berlin zurück. Er starb 1935 in Nizza. Von den siebzehn weiteren Institutsärzten nahmen sich fünf das Leben (Karl Giese, Wilhelm Kauffmann, Felix Abraham, Hans Friedenthal, Arthur Kronfeld), zwei wurden in den folgenden Jahren umgebracht (August Bessunger, Johannes Kreiselmaier) und vier verstarben im Exil (Berndt Götz, Max Hodann, Bernhard Schapiro, Friedrich Wertheim). Diese Daten aus den dem Hauptteil der Studie nachgeordneten biografischen Notizen unterstreichen eindrücklich die disruptive Wirkung des Nationalsozialismus auf die deutsche Sexualwissenschaft.
Künftige Auseinandersetzungen mit Hirschfeld oder dem Institut für Sexualwissenschaft werden an der vorliegenden Arbeit von Rainer Herrn nicht vorbeikommen. Die Studie empfiehlt sich zudem für die universitäre Lehre zur Geschichte der Sexualwissenschaft und - aufgrund der plastisch herausgearbeiteten Lokalgeschichte - auch der Berlins. Ihr Quellenreichtum macht sie zu einer inspirierenden Fundgrube für Abschlussarbeiten, was angesichts eines wachsenden studentischen Interesses an der Geschichte der Sexualität besonders wertvoll ist.
Hinter Herrns beeindruckender Detailkenntnis und dem Willen zu einer umfassenden Wissensdokumentation treten systematisierende Analysen in der Studie allerdings zurück. Die zu jedem Zeitpunkt präzise ausgebreitete Quellendichte lässt wenig Raum für größere interpretative Linien, die eine Leserschaft abholen könnten, die nicht bereits ohnehin an Hirschfeld oder dem Institut interessiert ist. Da sich die medizinischen, psychologischen und sozialarbeiterischen Tätigkeitsbereiche des IfS stetig und oft rasch wandelten, führt die chronologische Gliederung zu häufigen Sprüngen und inhaltlichen Redundanzen.
Schließlich hätte man sich von Rainer Herrn als einschlägigem Experten eine explizitere Einschätzung zu der seit den 1980er Jahren geführten Debatte um Magnus Hirschfelds Bedeutung für eugenische Selektionstheorien vor 1933 gewünscht - und nicht nur die Warnung vor "nachträglichem Besserwissen" (229). Ebenso wäre ein Einblick in die transnationale Rezeptionsgeschichte des Instituts, der abgesehen vom kurzen Verweis auf Hirschfelds Vortragsweltreise zwischen 1930 und 1932 fehlt, interessant gewesen. Der Verzicht auf die Außenwahrnehmung sowie auf den Anschluss an ältere wie neuere Arbeiten zur Sexualitätsgeschichte [1] könnte jedoch auch der Entscheidung zugunsten der Veröffentlichung in einem attraktiven Publikumsverlag geschuldet sein.
Anmerkung
[1] So fehlen beispielsweise: Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts [2005], Gießen 2021; Norbert Finzsch, Der Widerspenstigen Verstümmelung. Eine Geschichte der Kliteridektomie im "Westen", 1500-2000. Bielefeld 2021; Jana Funke, Navigating the Past. Sexuality, Race, and the Uses of the Primitive in Magnus Hirschfeld's The World Journey of a Sexologist, in: Kate Fisher u. Rebecca Langlands (Hg.), Sex, Knowledge, and Receptions of the Past, Oxford 2015, 111-134; Kirsten Leng, Sexual Politics and Feminist Science. Women Sexologists in Germany, 1900-1933, Ithaca 2018.
Veronika Settele