Henrik Schwanitz: Von der Natur gerahmt. Die Idee der 'natürlichen Grenzen' als Identitätsressource um 1800 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde; Bd. 65), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2022, 362 S., 10 Abb., ISBN 978-3-96023-382-4, EUR 55,00
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Auf dem Sockel des nicht unumstrittenen Denkmals von Ernst Moritz Arndt (1769-1860) am Alten Zoll in Bonn steht u.a.: "Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze". Das Zitat stammt aus Arndts gleichnamiger Schrift von 1813. Die Enthüllung der Statue fand erst 1865 statt. Man darf annehmen, dass Arndt, hätte er noch gelebt, gegen diese Auswahl nichts einzuwenden gehabt hätte. Der spätere Bonner Universitätsrektor war inbrünstiger Napoleongegner gewesen, der in seinen Schriften und Kampfliedern gegen "die Franzosen" hetzte und sich dabei u.a. auf die Abwehr der frontières naturelles als Eroberungsargument konzentrierte. In seinem Werk zeigt sich beispielhaft die Ambivalenz des frühnationalen Diskurses über sogenannte "natürliche" - also physisch vorgegebene und deshalb vermeintlich unhintergehbare - Grenzen, die Gegenstand der zu besprechenden Studie sind. Denn Arndt war, wie Henrik Schwanitz zeigt, eben nicht gegen die Auffassung, dass sich Gemeinwesen im Rahmen von natürlichen Gegebenheiten konstituieren sollten (192-194, 284, 293). Nur sollten dafür eben nicht Flüsse als Maßgabe dienen, sondern lieber Gebirge, da sich dahinter "Wohnsitze der Völker" (198), Sprache und "Sitten" vereinigten. Arndt befand sich damit im Einklang mit dem von Jahn und Anderen propagierten, für den angestrebten "deutschen" Staat weitaus vorteilhafteren Jura-Vogesen-Ardennen-Grenzentwurfs (209-216). In dieser Argumentation war der Rhein nicht Grenze, sondern Kernelement einer vorgestellten, spezifisch teutschen Landschaft (178, 223-25, 307).
Die "patriotische" Publizistik der Befreiungskriege, die die Frage aufwirft, welche Seite eigentlich mehr vom Rhein besessen war, ist nur ein Teilstrang der in Dresden entstandenen Dissertation. Schwanitz hat sich für eine Diskursgeschichte im zeitlichen Spektrum der sogenannten nationalen Sattelzeit (Ute Planert) (169) entschieden, die einen weiten Bogen von der Naturphilosophie der Aufklärung über die Erosion der Staatengeographie zugunsten der physischen Geographie zu den Reformdebatten im rheinbündischen Königreich Sachsen und letztlich zur grundsätzlichen Problematik der Überzeitlichkeit geodeterministischer Ideen spannt.
In Sachsen dienten, wie auch in anderen Rheinbundstaaten, Geographie und insbesondere das Flusssystem als Bezugspunkt für eine am Vorbild der départements orientierte, territoriale Neuaufteilung im Sinne einer "Nation im Kleinen" (157, 275). Die Gebietsreform wurde dort von einer bestimmten Akteursgruppe - bürgerliche und adelige Gutsbesitzer, darunter Reformbeamte der obersten Regierungsbehörden (254-258) - gefordert und kam, bedingt durch Kriegsausgang und Wiener Kongress (293-294), nie zur Umsetzung. Das Beispiel Sachsen mit der Analyse der im Vorfeld des einzigen "rheinbündischen Landtags" von 1811 eingereichten Reformvorschläge, Karten und Denkschriften aus dem Dresdener Hauptstaatsarchiv (41, 260-282) macht gut 50 Seiten der Arbeit aus. Der Rest ist eine breite Wissens- und Ideengeschichte von "Natur", "Raum" und deren legitimatorische Qualität in Bezug auf Staatlichkeit und frühnationale Identitäten.
Methodisch knüpft die Arbeit an Problemkomplexe an, die in der kulturgeschichtlichen Nationalismusforschung (31), der Analyse geographischer Vorstellungswelten sowie der historischen Grenzforschung (15) zu verorten sind. In einem hinführenden Teil (II.) macht Schwanitz die Problematik von der ordnenden Natur und Natur- bzw. Raumwissen im Kontext der vorrangig deutschen Aufklärung auf, um danach auf die Genese der Idee der 'natürlichen Grenzen' in Staatstheorie (III.1), (früher) Geografie (III.2) sowie in Geschichts- und Kulturphilosophie (III.3) seit der Frühen Neuzeit einzugehen. In Abschnitt IV. werden, als Hinführung auf das Fallbeispiel Sachsen der vielschichtige Konnex zwischen Natur und (Früh-)Nationalismus erörtert.
Schwanitz beweist in diesem großen Komplex, dass das Konzept der natürlichen Gränzen bei den Intellektuellen und Staatsbeamten d'outre Rhin ausgesprochen populär war. Die Arbeit räumt mit der landläufigen Annahme auf, die Idee der "natürlichen Grenzen" sei eine genuin französisch geprägte Chiffre (77) und gehöre im deutschsprachigen Raum zu den "skurrilen Ideen von Einzelgängern" (Hans-Ulrich Wehler) (186, 304). Anhand einer Vielzahl von Periodika, gelehrter Abhandlungen und publizistischer Einzelschriften wird deutlich, dass das Konzept fächer- und genreübergreifend diskutiert wurde, nicht immer mit dezidiert politischem Gehalt und nicht immer als "Identitätsressource". Der vor- und frühmoderne Naturgrenzen-Diskurs der "deutschen Geisteswelt" (74) wirkt vielfältig, veränderlich und in seiner Gänze kaum fassbar. Jenseits der Problematik, wie das Natürliche vom Göttlichen zu unterscheiden wäre - eine Trennung, die eigentlich nie vollständig vollzogen wurde (z.B. 142, 202) - erschienen Naturgrenzen im vormodernen Diskurs als juristisch erstrebenswert (88). Der Evidenz der Natur wurde befriedende Funktion zugeschrieben (94), weshalb Naturgrenzen durchaus Kriegsziel sein sollten (104) - ein Topos, der im Zeitalter nationaler Chauvinismen unter veränderten Vorzeichen wiederauftauchte (299). Mit Blick auf gültiges Völkerrecht blieben die Vertreter dieser Auffassung freilich nie unwidersprochen (283, 286). Insgesamt ging enormer Einfluss von französischen Vordenkern aus, etwa im Fall der Vorstellung vom Ewigen Frieden (146f.), aber auch in Bezug auf die Kopplung von Politik und Geographie nach dem géographe du roi Philippe Buache (119f., 272).
Der Epilog (V.) bestätigt, was sich während der Lektüre andeutet: die Rationalisierungs- und Homogenisierungstendenzen im Umgang mit Raum "um 1800", die einerseits mit verwaltungspraktischen Reformerwägungen, andererseits mit der Evokation von Staatsbewusstsein zu tun hatten (100f.), können nicht auf einen herrschenden Diskurs reduziert werden. Die Zurückweisung von an der Natur orientierten Territorialgrenzen als primitiv sowie die Auffassung, dass "die Natur" schlicht und ergreifend unpolitisch sei und dem Willen des Menschen unterworfen, reichen z.T. in die Vormoderne zurück (91, 183, 286, 294). Die von Schlegel befeuerte Vorstellung von der "deutschen Kulturnation", die durch geistige Verbindungsmittel (284), ergo Sprache, zusammengehalten werde, bewertet Schwanitz als "letztlich dominierenden Teil der deutschen Nationalbewegung" (ebd.). Nicht zuletzt in den Debatten um real durchzusetzende Gebietsreformen, wie in Sachsen um 1811, zeigen sich die harten Interessenkonflikte um Raum und Recht, in denen Reformaffine notwendigerweise mit Verfechtern personengebundener Privilegien aneinandergerieten, für die eine naturalisierte Raumordnung der wahrgewordene Alptraum war, da Machtpositionen und Steuerverteilung zur Disposition standen (288-289).
Viele Befunde sind neuartig und nicht zuletzt mit Blick auf die Rheinbundforschung, die erst seit 2015 verstärkt den mitteldeutschen Raum in den Blick nimmt (226), beachtenswert. Die "Fernwirkung" von Essentialisierungen, die Menschen "naturgemäß" auf Räume prägten und bald ins Perfide umschlugen, kann gewiss nicht genug betont werden (290f.). Die vorgelegte Diskursgeschichte hat sich ihren Rahmen selbst gesetzt: "Es ist die Sicht der Gelehrten, der Intellektuellen, der politisch Interessierten, der Staatsbeamten und der Regierungsmitglieder." (42). Am Ende bleibt die Frage, ob der abstrakte, politisch-intellektuelle Diskurs irgendwie in der sozialen Erfahrung wirksam wurde. Die "Wirkung und Wahrnehmung" von Grenzen (Andreas Rutz) in Zeiten der großen und kleinen Länderarrondierungen, insbesondere in Hinblick auf Naturraum als fiskalische Größe und ökonomische Ressource, ist ein Desiderat und freilich eine andere Geschichte. Henrik Schwanitz, der sich mit "Raum" und "Natur" äußerst diffizilen Kategorien der historischen Forschung angenommen hat, liefert dafür maßgebliche Anknüpfungspunkte.
Maike Schmidt