Simon Goeke: »Wir sind alle Fremdarbeiter!«. Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960-1980 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 36), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020, 386 S., ISBN 978-3-506-70295-1, EUR 66,00
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Welche Rolle spielten Migrantinnen und Migranten auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt seit den 1960er Jahren? Welche Position nahmen die Gewerkschaften gegenüber der Arbeitsmigration ein? Wie betrachteten die Studierendenbewegung und die neue Linke die migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter?
Diesen Fragen geht Simon Goeke in seinem Buch nach. Demzufolge gliedert es sich neben der Einleitung und dem Schluss in drei große Abschnitte, die jeweils einen dieser thematischen Komplexe behandeln. Dabei legt er zu Recht großen Wert darauf, die Migrantinnen und Migranten nicht nur als Objekte staatlichen oder gewerkschaftlichen Handelns zu begreifen, sondern sie als Akteurinnen und Akteure mit eigenen Interessen und Zielen ernst zu nehmen. Sie wehrten sich von Beginn an gegen die vorgefundenen Arbeitsbedingungen, erhoben ihre Stimme in den Gewerkschaften und organisierten sich in eigenen Interessenverbänden. Mit dieser Grundannahme folgt Goeke den neuen Tendenzen der Migrationsforschung.
Mit den Anwerbeverträgen der Bundesrepublik seit 1955 mit Italien und später mit weiteren Ländern veränderte sich der Arbeitsmarkt grundlegend. Die westdeutsche Gesellschaft verstand die Neuankommenden jahrzehntelang aber als vorübergehende "Gäste", die unliebsame, schwere körperliche Tätigkeiten verrichten, aber langfristig wieder in ihr Heimatland zurückkehren würden. Deshalb ergriff sie zunächst auch kaum Anstrengungen, um die Integration der Migrantinnen und Migranten zu fördern, sondern begriff die Migration primär als arbeitsmarkt- und ordnungspolitische Angelegenheit. Goeke fasst dieses Vorgehen mit dem Begriff "Migrationsregime" (31).
Trotzdem ordneten sich die Migrantinnen und Migranten nicht einfach widerspruchlos den bestehenden Verhältnisse unter. Bereits in den frühen 1960er Jahren streikten migrantische Beschäftigte bei VW in Wolfsburg gegen die schlechte Unterbringung und die Arbeitsbedingungen. Der Betriebsrat und die IG Metall als zuständige Gewerkschaft standen der Auseinandersetzung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Diese Haltung verweist darauf, dass die klassischen Vertretungsorgane bislang keinen Umgang mit der einsetzenden Veränderung der Beschäftigungsverhältnisse gefunden hatten. Häufig hielten sie die Forderungen der Migrantinnen und Migranten für nicht gerechtfertigt und sahen in ihnen primär eine Bedrohung für die deutschen Lohnabhängigen. Sie fürchteten, die nichtdeutschen Kolleginnen und Kollegen könnten als Lohndrücker und Streikbrecher eingesetzt werden.
Die migrantischen Arbeitskämpfe in den 1960er Jahren blieben lokal begrenzt und erregten meist keine überregionale Aufmerksamkeit. Anfang der 1970er Jahre änderte sich dieser Umstand. Ohnehin traten viele Beschäftigte in diesen Jahren in unterschiedlichen Branchen in den Streik, um hohe Lohnforderungen durchzusetzen. Diese teils gewerkschaftlich organisierten, teils "wilden" Arbeitskämpfe erlebten 1973 einen Höhepunkt, so auch bei Ford in Köln. Die Presse schrieb vom "Türkenstreik". Wegen langer Reisewege wiesen die türkischen Beschäftigten nach den Werksferien eine hohe Abwesenheitsquote auf. Daraufhin verschärfte der Betrieb die Sanktionen. Hinsichtlich dieser Maßnahme zeigte sich die Spaltung der Betriebsangehörigen in migrantische und nichtmigrantische Beschäftigte, da die deutschen Arbeiter dagegen nichts einzuwenden hatten. Aufgrund dieser Verschärfungen und des gestiegenen Arbeitsdrucks traten die betroffenen Beschäftigten in einen Streik. Die distanzierte Haltung der IG Metall veränderte sich bald, weil die migrantischen Beschäftigten einen hohen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad aufwiesen. Die Gewerkschaft konnte sie nicht dauerhaft marginalisieren. Zugleich wurde immer deutlicher, dass ohne migrantische Beschäftigte kaum noch ein erfolgreicher Arbeitskampf zu führen war. So wandelte sich die Haltung der Gewerkschaften sukzessive.
Diese Veränderung behandelt Goeke im folgenden Kapitel: "Die Gewerkschaften und die 'multinationale Arbeiterklasse'" (147-245). Zunächst gehörten die Gewerkschaften nicht zu den entscheidenden migrationspolitischen Akteuren. Sie waren aber als Interessensorganisationen mit dem migrationsbedingten Wandel des Arbeitsmarktes unmittelbar konfrontiert. Lange stellten sie sich gegen die Beschäftigung nichtdeutscher Arbeiterinnen und Arbeiter, weil sie befürchteten, dass die Einheit der Beschäftigten und damit ihre Kampfkraft dadurch unterminiert werden könnte. Migrantische Beschäftigte entwickelten sich aber immer mehr zu einem wichtigen Segment in den Betrieben. Sie waren häufig bereits in ihrer früheren Heimat politisiert und oft gewerkschaftlich organisiert. Dennoch passten die Gewerkschaften sich organisatorisch nur langsam an diese veränderten Bedingungen an. Ihre Ambivalenz zeigte sich auch beim Anwerbestopp, den die Bundesregierung 1973 anlässlich der Auswirkungen der Ölpreiskrise verhängte. Die Gewerkschaften befürworteten diese Regelung, da sie eine wachsende Arbeitslosigkeit befürchteten. Eine weitere Einwanderung könne die Situation für die Beschäftigten in Deutschland verschärfen. Diese Schutzmaßahme sollte aber auch den migrantischen Arbeitern in Deutschland dienen.
Diese Haltung zeigte die "migrationspolitische Gratwanderung" (244) der Gewerkschaften, die Goeke an vielen Beispielen deutlich macht. Aus diesem Dilemma kamen sie auch in den kommenden Jahren nicht heraus. Allerdings öffneten sie ihre Organisationen stärker für die Belange der migrantischen Mitglieder. So verstärkten viele DGB-Gewerkschaften ihre Organisationsbemühungen in dieser Beschäftigtengruppe; die IG Metall richtete eine Abteilung Ausländische Beschäftigte ein.
Im dritten Großkapitel geht der Autor auf den Zusammenhang von sozialen Bewegungen, Migration und migrantischer Selbstorganisation ein. Nachdem die Studierendenbewegung sich Anfang der 1970er Jahre zunehmend aufgelöst hatte, vollzog die Neue Linke eine sogenannte proletarische Wende. Ihre Anhänger gingen in die Betriebe, um direkt die Arbeiterklasse zu agitieren. Dabei nahmen die ausländischen Beschäftigten eine herausgehobene Rolle ein. Die deutschen Linksradikalen imaginierten sie als neues revolutionäres Subjekt. Wie verfehlt diese Projektion war, macht Goeke am Beispiel der Gruppe Arbeitersache bei BMW in München deutlich. Nach dem Scheitern der Betriebsinterventionen wandten sich die Organisationen der Neuen Linken verstärkt der "Reproduktions- und Freizeitsphäre" (320) zu.
Im abschließenden Teil beleuchtet der Autor die Selbstorganisation von Migrantinnen und Migranten. Bahnhöfe als zentrale, öffentliche Räume nahmen dabei eine wichtige Funktion als Treffpunkte für sie ein. Ferner argumentiert der Autor schlüssig, dass Migrantinnen und Migranten sich schon frühzeitig selbst organisierten und an unterschiedlichen Kämpfen beteiligten. Diese Traditionslinie antirassistischer Organisierungen werde aber häufig nicht in ihrer vollen Bedeutung wahrgenommen.
Diese Geschichte herauszustellen ist eines der zentralen Anliegen von Simon Goeke. Er ordnet die Migration ab den 1960er Jahren in den allgemeinen sozialen Wandel ein. Die Migrantinnen und Migranten begreift er als handelnde Subjekte, die ihre Interessen durchzusetzen versuchten, sich organisierten und an sozialen und betrieblichen Kämpfen beteiligten. Ein besonderes Augenmerk legt der Autor dabei auf die Schwierigkeiten der Gewerkschaften, einen Umgang mit der Migration zu finden.
Zwar sind in den letzten Jahren einige Bücher zu dieser Thematik erschienen, aber generell stellte das Verhältnis der Gewerkschaften zur Migration keinen integralen Bestandteil der Gewerkschaftsgeschichte dar. In der Migrationsforschung spielten die Gewerkschaften keine Rolle, und in der Gewerkschaftsgeschichte fehlte die Migration. Beide zu verbinden, ist absolut erforderlich und erkenntnisreich. In dieser Hinsicht weist die Studie von Goeke Pioniercharakter auf.
Sebastian Voigt