Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, München: Carl Hanser Verlag 2022, 255 S., ISBN 978-3-446-27296-5 , EUR 24,00
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Das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus und die angemessene Erinnerung daran erhitzen seit einiger Zeit die Gemüter in den Feuilletons der großen Tageszeitungen und in der Politik. Die Einladung des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe zur Ruhrtriennale 2020, der die in Teilen antisemitische Bewegung BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt, sowie der Skandal um die Documenta fifteen 2022 in Kassel mit ihren antijüdischen Ausstellungsstücken sind Beispiele dafür. Spätestens der polemisch-politische Angriff des australischen Genozidforschers Dirk Moses auf die Präzedenzlosigkeit der Shoah und die deutsche Gedenkkultur brachte die Auseinandersetzung auch in die historische Zunft. Er qualifizierte jüdischstämmige Historiker als "Hohepriester" des Holocaust ab [1].
Nun hat der in Deutschland geborene, israelische Soziologieprofessor Natan Sznaider ein Buch über die Debatten vorgelegt. Sicherlich bildet die Heftigkeit der Auseinandersetzungen in den vergangenen Jahren seinen Hintergrund, allerdings holt es viel weiter aus und verleiht der Diskussion damit eine bislang meist vermisste Tiefenschärfe. Vor allem beleuchtet Sznaider immer wieder den scheinbaren Widerspruch zwischen einer partikularen und einer universalistischen Perspektive und fragt nach der Rolle der jüdischen Erfahrung darin.
Diese Grundfrage diskutiert Sznaider im ersten, großen Teil "Leben in und mit der Unmöglichkeit" am Beispiel jüdischer Denker wie dem Soziologen Karl Mannheim, der Philosophin Hannah Arendt oder dem tunesisch-jüdischen Schriftsteller Albert Memmi. Zugleich berücksichtigt er zentrale Gründungspersönlichkeiten des postkolonialen Denkens, etwa den palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said. Besonders instruktiv ist das Buch, wenn zwei Denker in (antagonistischer) Beziehung zueinander dargestellt werden, so beispielsweise der Filmemacher Claude Lanzmann und der antikoloniale Theoretiker und Aktivist Frantz Fanon.
Karl Mannheim, 1893 in Ungarn in eine assimilierte jüdische Familie geboren, emigrierte 1919 nach der Niederschlagung der Räterepublik über Wien nach Deutschland. Nach der Habilitation in Heidelberg ernannte ihn schließlich die Universität Frankfurt zum Ordentlichen Professor. Allerdings musste er das Land nach Beginn der NS-Herrschaft erneut verlassen und ging nach Großbritannien ins Exil. In seinem Werk reflektierte er über die Rolle der freischwebenden Intelligenz in der Gesellschaft mit ihrem spezifischen Blick auf die Verhältnisse. Diese Perspektive war auch die der Juden, die sie gezwungen waren einzunehmen.
Hannah Arendt konzeptionalisierte sie später in der Figur des (jüdischen) Paria. Die partikulare Erfahrung der Verfolgung als Jüdin beschäftigte sie in ihrem philosophischen und geschichtlichen Nachdenken. Dabei stand der Holocaust als Zivilisationsbruch im Zentrum. Vor allem ihr Buch über die Ursprünge des Totalitarismus stelle, so Sznaider, den Versuch dar, "die jüdische Tragödie auch außerhalb jüdischer Erfahrungsräume zu verstehen" (70). Darin diskutiert sie, inwieweit koloniale Gewalt bereits den Weg dorthin ebnete.
Noch stärker von der partikularen Perspektive war der französische Filmemacher Claude Lanzmann geprägt. Die Welt habe die Juden allein gelassen und ihre Vernichtung hingenommen. Sie dokumentiert Lanzmann auf beklemmende Weise in seinem Film Shoah, während seine Filme Warum Israel und Tsahal über die israelische Armee als Konsequenz aus dieser Gleichgültigkeit die Notwendigkeit eines wehrhaften jüdischen Staates begründen. Lanzmann kooperierte ebenfalls eng mit Jean-Paul Sartre, der auch das Vorwort zu dem zentralen Buch des Antikolonialismus Die Verdammten dieser Erde von Frantz Fanon beisteuerte. Der aus Martinique stammende Psychiater wurde zu einem vehementen Unterstützer des algerischen Befreiungskampfes und legitimierte die antikoloniale Gewalt. Lanzmann und Fanon, die unterschiedliche Konsequenzen aus dem historischen Verlauf zogen, diskutiert Sznaider in kontrastierender Perspektive.
Des Weiteren widmet er Albert Memmi ein Kapitel. Er stammte aus einer jüdisch-tunesischen Familie und befasste sich als arabischer Jude sowohl intensiv mit dem Rassismus als auch mit dem Antisemitismus. Mit seinen verschiedenen Diskriminierungserfahrungen verband er in seiner Person gewissermaßen den Antikolonialismus und die Bedeutung eines jüdischen Staates. Damit steht er "quer zum Kanon antikolonialistischen Denkens" (122), ganz im Gegensatz zu Edward Said. Der in Jerusalem geborene arabische Christ legte mit seinem Buch "Orientalismus" 1978 ein "Schlüsselwerk des postkolonialen Diskurses" (141) vor. Er betrachtete Israel als kolonialen Apartheidstaat und die Palästinenser als die neuen, staatenlosen Juden. Das Werk des später in New York lehrenden Literaturwissenschaftlers beeinflusst die Diskussion bis in die Gegenwart.
Den zweiten, kürzeren Teil des Buches überschreibt der Autor mit "Fluchtpunkte der Erinnerung" (161-215). Dabei behandelt er in einem Kapitel die unterschiedlichen Perspektiven auf Israel, in einem weiteren den Umgang in Deutschland mit der kolonialen Vergangenheit und den Verbrechen. Ihre stärkere Thematisierung verändere auch den Stellenwert des Holocaust: "Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kennzeichnet die Erinnerung an den Holocaust die Vielfältigkeit und Gleichzeitigkeit von Bedeutungen. Da liegt es nahe, den Holocaust im Kontext von Rassismus, Unterdrückung und Kolonialismus zu verstehen" (185). Damit trete aber die Frage verschiedener historischer Erfahrungen sowie der Opferkonkurrenz auf die (erinnerungs-)politische Arena. Sznaider legt sie im abschließenden Kapitel am Beispiel des Verhältnisses von Rassismus und Antisemitismus dar, also des Verhältnisses von Kolonialverbrechen und der Vernichtung der europäischen Juden.
Er bemüht sich, die festgefahrenen Positionen, die Polarität aufzubrechen und plädiert für eine Synthese, um ein angemessenes Gedenken im neuen Jahrtausend zu etablieren: "weder westlich noch nichtwestlich, sondern beides. Nicht Kolonialismus oder Holocaust, sondern beides. Das ist die Aufgabe der Ethik des Nie wieder. Diese Ethik opfert weder die Besonderheit, noch geht sie von einer Illusion universeller Gleichheit aus. Universalismus und Partikularismus müssen gemeinsam gedacht und reflektiert werden" (214).
Das Buch von Natan Sznaider hebt sich positiv von den politischen Pamphleten und Bekenntnissen über Holocaust und koloniale Gewalt ab. Ihm gelingt es, am Beispiel der unterschiedlichen Denker die Ursachen und die Bedeutung einer jüdischen Erfahrungsgeschichte ebenso wie einer antikolonialen Haltung herauszuarbeiten. Seinem Plädoyer dafür, die Debatte nicht einseitig aufzulösen, ist vollkommen zuzustimmen. Was dieser Appell letztlich konkret bedeuten könnte, wäre Teil einer politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ob die Vertreter postkolonialer Ansätze daran jedoch überhaupt Interesse haben, ist zumindest fraglich, wenn man das Pamphlet von Dirk Moses liest.
Anmerkung:
[1] A. Dirk Moses: Der Katechismus der Deutschen, in: Geschichte der Gegenwart, 23.05.2021; geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen/ [18.08.2023].
Sebastian Voigt