Rezension über:

Mathis Leibetseder: Joachim II. von Brandenburg. Kurfürst zwischen Renaissance und Reformation (= Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz - Forschungen; Bd. 15), Berlin: Duncker & Humblot 2022, VII + 743 S., 40 Abb., ISBN 978-3-428-18478-1, EUR 129,90
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Rezension von:
Andreas Stegmann
Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Stegmann: Rezension von: Mathis Leibetseder: Joachim II. von Brandenburg. Kurfürst zwischen Renaissance und Reformation, Berlin: Duncker & Humblot 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/37537.html


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Mathis Leibetseder: Joachim II. von Brandenburg

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Obwohl der brandenburgische Kurfürst Joachim II. ein wichtiger Hohenzollernherrscher ist, findet er in der Forschung nur wenig Interesse. Dass nun eine umfassende Biographie vorgelegt wird, ist längst überfällig, überrascht aber auch, weil der Stand der Erforschung der brandenburgischen Landesgeschichte des 16. Jahrhunderts es fraglich erscheinen lässt, ob solch ein Vorhaben gelingen kann.

Das mehr als 750 Seiten umfassende Buch gibt eine breit angelegte Darstellung des Lebenswegs Joachims: Dargestellt werden die Zeit bis zum Herrschaftsantritt 1535 (26-150), die Religionspolitik (151-367), weitere wichtige Aspekte der Herrschaft wie die "Kunst der Standesrepräsentation", die Familienpolitik und der Umgang mit "Geld, Verwaltung und Disziplin" (368-540) und der Tod und der Herrschaftswechsel im Jahr 1571 (541-59). Gerahmt werden die Hauptteile von Einleitung (1-25), Nachwort (560-66) und Anhängen (567-743). Die Darstellung geht konventionell vor, indem sie den Lebensweg Joachims II. nachvollzieht und dabei vor allem sein politisches Wirken in den Blick nimmt. Zu weiten Teilen beruht das Buch auf der Auswertung der älteren und neueren Sekundärliteratur, die mit eigenen Quellenrecherchen kombiniert wird. Im Einzelnen wie im Ganzen zeigen sich dabei freilich Mängel.

Das Buch beansprucht, auf breiter Quellenrecherche zu basieren. Tatsächlich wurden im Druck verfügbare Quellen sowie Bestände des Geheimen Staatsarchivs in Berlin ausgewertet - beides aber nicht umfassend. Was das Staatsarchiv betrifft, berücksichtigt der Verfasser wichtige Quellen nicht, etwa den Entwurf des Kurfürsten für sein Testament (532) oder die 1561 konzipierte Visitations- und Konsistorialordnung. Andere Archive in Deutschland und über Deutschland hinaus, die wichtiges Quellenmaterial bieten, wurden nicht oder nur oberflächlich ausgewertet. Man fragt sich, warum weder die Quellenlage erörtert noch die herangezogenen handschriftlichen Quellen verzeichnet werden, aber eine für die Darstellung belanglose mehr als 60-seitige Liste angehängt ist, die in chronologischer Abfolge nachweist, wann der Kurfürst sich wo aufgehalten hat - und den Eindruck erweckt, der Biograph schöpfe aus dem Vollen der verfügbaren Quellen.

Wer eine wissenschaftliche Biographie verfasst, muss die Quellen zu einer Person und ihrem Wirken kritisch untersuchen und gründlich auswerten. Das vorliegende Buch aber beschränkt sich auf Erwähnungen von Quellen und Paraphrasen, und da, wo es sich genauer mit einzelnen Quellen beschäftigt, weckt es Zweifel, ob der Verfasser diese gründlich studiert hat. So muss man die Frage stellen, ob der Verfasser die für ihn wichtigste Quelle für die Feier des ersten evangelischen Abendmahls 1539 nicht sprachlich im Sinne seiner gewünschten Deutung zurechtbiegt (206-10), und man wundert sich, dass von den beiden Leichenpredigtdrucken von Andreas Musculus von 1571 nur der eine, weniger inhaltsreiche verwertet wird, der aber unter dem Titel des anderen, ausführlicheren angeführt wird (544). Bei der Behandlung der für die kurfürstliche Politik wichtigen Kirchenordnung von 1540 (216-32 u.ö.) fasst der Verfasser in neue Formeln, was während des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder behauptet wurde: dass es sich um einen Text ohne "konzeptionelle Stringenz und religionspolitische Eindeutigkeit" (222) handele, der charakterisiert sei durch "Ambiguitätspotenzial" (223), "Traditionalismus" (224) und "Elastizität" (231). Für die 1540 auf breiter Front einsetzende reformatorische Umgestaltung des Kirchenwesens sei die Kirchenordnung darum nicht maßgeblich gewesen, vielmehr sei eine "Vereindeutigung der Konfessionsverhältnisse trotz und jenseits der Kirchenordnung" in Gang gekommen (244). Überzeugende Belege für seine Deutung der Kirchenordnung bleibt der Verfasser schuldig, und für die Umsetzung der Kirchenordnung und die Umgestaltung der Kirchenorganisation interessiert er sich nicht. Bei dieser Biographie ist also nicht nur das Quellenfundament zu schmal, sondern die Auswertung der Quellen unzureichend.

Über weite Strecken ist das Buch eine Kompilation von Sekundärliteratur. Das ist eine Leistung, die als solche gewürdigt werden kann, und auch auf diesem Wege ließe sich eine ernstzunehmende Biographie verfassen. Allerdings kennt der Verfasser die Forschungsdiskussion nicht umfassend und hat auch nicht alles gründlich gelesen, was er in den Fußnoten anführt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Bei der Behandlung der Auswirkungen des Augsburger Interims auf das Kurfürstentum Brandenburg (336-48) wird weder die neuere landesgeschichtliche Forschung (etwa von Günther Wartenberg) herangezogen noch die jüngste Rekonstruktion der Vorgänge durch Rezensenten im Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 2017, die eine deutlich andere Sicht der Vorgänge enthält, ausgewertet. Ausdruck dieses Desinteresse an der Auseinandersetzung mit der Forschung ist, dass das Buch weder eine Darstellung der Forschungsgeschichte noch eine Bilanz des Forschungsstands enthält. Einer Auseinandersetzung mit der Fachdiskussion weicht der Verfasser aus; stattdessen positioniert er sich in zahlreichen Fragen, ohne Rechenschaft über seine Gründe zu geben und andere Sichtweisen angemessen einzubeziehen. Es entsteht der Eindruck, als formuliere der Biograph einen Konsens der Forschung und vertrete selbst eine ausgewogene Positionierung.

Im Einzelnen finden sich viele Fehler und Irrtümer, wie zwei Beispiele zeigen: Die lateinische Benennung des Augsburgischen Bekenntnisses hat nichts mit dem Kirchenvater Augustinus zu tun (14), und der Hinweis auf "die vier particula [sic] exclusiva [sic] - sola fide, sola [sic] Christus, sola gratia und sola scriptura" (286) weckt Zweifel an den Sprachkenntnissen des Verfassers. Die Liste lässt sich leicht verlängern; angesichts des Umfangs des Buchs und der Fülle der angesprochenen Themen wären solche und andere Fehler und Irrtümer kaum der Rede wert, gäbe es nicht die Mängel im Umgang mit den Quellen und der Literatur.

Die Darstellung und Deutung Joachims II. kann nicht überzeugen. Die vom Verfasser 2017 verfochtene Deutung als 'vorkonfessionell' ist stillschweigend fallengelassen worden, stattdessen hantiert er nun mit dem Begriff der Ambiguität. Dass Ambiguität eine Signatur der Frühen Neuzeit ist, hat Hillard von Thießen 2021 gezeigt. Ohne den Begriff zu verwenden haben frühere Historikergenerationen die Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit frühneuzeitlicher Menschen beschrieben, zumal im Bereich der Politik. Der Verfasser allerdings sieht in der auf Ambiguität abzielenden und Ambiguität tolerierenden Haltung Joachims eine besondere persönliche Eigenschaft. Damit schätzt er den Protagonisten und seine Umwelt falsch ein, gab es doch im Deutschland des 16. Jahrhunderts ein starkes Bemühen um Vereindeutigung und Grenzziehung. Das gilt gerade auch für die Religionspolitik des Kurfürsten, die unter dem Deckmantel taktischer Anpassung und Vermittlungsbereitschaft auf die Umsetzung der Wittenberger Reformation im Kurfürstentum abzielte. Das politische Handeln des Kurfürsten spricht eine eindeutige Sprache, die auch die Ambiguitätsrhetorik des Verfassers nicht in ihr Gegenteil verkehren kann. Es ist bemerkenswert, wie lange Erzählmuster wie die vom "[u]nentschlossenen, [w]ankelmütigen und [v]ieldeutigen" Kurfürsten (212) nachwirken. Nicht nur den Begriff der Ambiguität, sondern auch andere Bruchstücke entlehnt der Verfasser der postmodernen Theorie, er wagt aber nicht den entscheidenden Schritt, mit Hilfe der elaborierten Reflexion und Praxis der 'New Biography' das gängige Muster von Lebensbeschreibungen frühneuzeitlicher Herrscher hinter sich zu lassen.

Als letzter Punkt sei auf den Abstand zwischen dem angegebenen Abschluss der Druckvorlage und der Drucklegung verwiesen: Das im Jahr 2022 erschienene Buch sei im Jahr 2019 abgeschlossen worden (25). Die Verzögerung wäre keiner Erwähnung wert, hätte es nicht eine Reihe von Publikationen in den Jahren 2020 und 2021 gegeben, die hätten berücksichtigt werden müssen. Das gilt etwa für die 2020 in zwei umfangreichen Bänden veröffentlichten Quellen zur brandenburgischen Reformationsgeschichte (hg. von K. Neitmann), die auf breiter Quellengrundlage die Kirchenpolitik Joachims II. dokumentieren, für die 2019-21 von Ch. Schuchard herausgegebenen Bände der mittelmärkischen Visitationsakten, die zeigen, wie die Kirchenpolitik vor Ort umgesetzt wurde, für den 2021 im Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte veröffentlichten Briefwechsel Joachims II. mit König Sigismund von Polen aus dem Jahr 1539/40 oder für die 2021 in Beiheft 16 der Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte veröffentlichte Kritik des Rezensenten an Leibetseders Deutung der Person und Politik Joachims II.

Eine zuverlässige und überzeugende Biographie Joachims II., der mit der Einführung der Reformation und der Konsolidierung der Machtposition der Hohenzollern im Elbe-Oder-Raum eine wichtige Rolle für den Aufstieg Brandenburgs in der frühen Neuzeit spielt, bleibt ein Desiderat. Wer dieses Buch trotz der benannten Mängel benutzt, sollte das mit Vorsicht tun und die Aussagen des Verfassers an der Forschungsliteratur und vor allem an den Quellen überprüfen. Das empfiehlt sich im Übrigen für alle älteren und neueren Beiträge zur brandenburgischen Landesgeschichte der frühen Neuzeit: Die Zeit zwischen der Blüte märkischer Backsteingotik und den Anfängen brandenburgisch-preußischer Großmachtpolitik, also die Zeit zwischen 1450 und 1650, ist unzureichend erforscht und braucht verstärkte Aufmerksamkeit. Das hier rezensierte Buch wäre von Nutzen, wenn es eine Diskussion über die Wege der Forschung in Gang brächte, die einen neuen Blick auf diese so wichtige Umbruchphase werfen hilft.

Andreas Stegmann