Steffen Klävers: Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin: De Gruyter 2019, 250 S., ISBN 978-3-11-059762-2, EUR 99,95
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Das öffentliche Interesse an Debatten um Postkolonialismus, Rassismus und Antisemitismus ist hoch. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie zum Teil als Vehikel antizionistischer Agitation dienen. Dennoch sind Globalgeschichte, Kolonialismusforschung und die globalisierte Erinnerung an die Shoah Bereicherungen für die Holocaustforschung. Steffen Klävers veröffentlichte seine nüchterne Rekonstruktion und kritische Überprüfung der wirkmächtigsten postkolonialen Perspektiven auf die Holocaustforschung als Dissertationsschrift bereits 2019. Mittlerweile läuft eine unter der Bezeichnung "Historikerstreit 2.0" firmierende Debatte zu diesen Themenkomplexen. Zu Recht liegt Klävers' Buch daher nun als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung vor.
Klävers liefert in erster Linie eine Metaanalyse postkolonialer Theorien im Hinblicke auf die angebliche Kontinuität zwischen Kolonialgenoziden und Shoah. Auf dieser Grundlage diskutiert er, ob die oft mit dem Gestus des lange überfälligen Tabubruchs vorgetragenen komparativ-postkolonialen Ansätze in der Holocaustforschung der Erkenntnis förderlich sind. So startet das Buch mit einem einführenden Exkurs zur Genese der Singularitätsthese im Historikerstreit und der Historisierungs-Debatte der 1980er Jahre. Anhand der Begriffsgenese zeigt Klävers, wie unter anderem A. Dirk Moses behauptet, eine Deutung des Holocaust als präzedenzlos sei Mystifizierung und damit eine marginale Spielart der Singularitätsthese zur Mehrheitsposition umdeutet. Eine der Geschichte enthobene, "sakrale" Unvergleichlichkeit der Shoah wird in der Holocaustforschung nämlich gar nicht vertreten. Moses hat für die Behauptung des Gegenteils keine Belege vorgebracht.
Nach dem Exkurs stellt Klävers die gegenwärtig für die postkoloniale Theoriebildung maßgeblichen Modelle der geschichtswissenschaftlichen Komparatistik vor. Dabei führt er eine analytische Unterscheidung zwischen adäquaten und inadäquaten historischen Vergleichen ein. Letztere lägen dann vor, wenn die Vergleichsgegenstände nur unzureichende Überschneidungspunkte aufwiesen, also das tertium comparationis - das zu vergleichende Dritte - zu heterogen sei.
In diesen Kontext sinnvoll eingebettet, rekonstruiert Klävers im ersten von drei Hauptkapiteln en detail wie Jürgen Zimmerer und A. Dirk Moses das Aufgehen des Holocaust in einer allgemeinen (kolonialen) Gewaltgeschichte postulieren. Es ist eine Stärke des Buches, dass der Autor dem zu Beginn formulierten Anspruch nachkommt, die theoretischen Grundlagen der postkolonialen Thesen zum Holocaust kritisch nachvollziehend darzulegen. Die extensive Wiedergabe und anschließende Interpretation von Zitaten lesen sich anstrengend; eine Zusammenfassung hätte die Lektüre vielleicht erleichtert. Umso überzeugender gelingt es Klävers mit dieser Methode jedoch, Moses und Zimmerers bruchlose theoretische Einordnung der NS- in die Kolonialherrschaft anhand von Argumenten und Belegen zu kritisieren, welche diese selbst vorgebracht haben. Zimmerer behauptet eine Wesensgleichheit der NS-Rassegesetze und der kolonialen Mischehe-Dekrete; Moses leitet aus Äußerungen Hitlers her, dass der Holocaust als "subalterner Genozid" zu deuten sei - also als vermeintlich antikoloniale Notwehr des sich von jüdischer Kolonisation unterdrückt imaginierenden NS-Regimes. Wie Klävers herausarbeitet, ignorieren beide Autoren in ihren Quellen jedoch die ihrer Argumentation widersprechenden Teile und gelangen so zu fragwürdigen Einschätzungen.
Das zweite Hauptkapitel diskutiert Michael Rothbergs erinnerungskulturelle Abkehr vom Gedenken an die Shoah als präzedenzloses Verbrechen zugunsten des Konzepts der multidirektionalen Erinnerung. Dieses soll ermöglichen, dass unterschiedliche kollektive Erinnerungen gleichberechtigt nebeneinanderstehen können, ohne sich wechselseitig zum Verschwinden zu bringen. Damit die Erinnerung an den Holocaust nicht die anderen historischen Traumata überdecken könne, müsse man von der Singularitätsthese Abstand nehmen, wie Rothberg postuliert. Klävers arbeitet nicht nur die Widersprüche in Rothbergs Theorie heraus. Einerseits behauptet Rothberg nämlich, dass im globalen Anerkennungskampf der Gedenkkulturen "die Erinnerung an Ereignis A automatisch eine Abwertung der Erinnerung an Ereignis B impliziere" (174). Andererseits gibt er zu bedenken, dass das Holocaust-Gedenken andere Erinnerungskulturen erst hervorgebracht habe. Rothbergs Charakterisierung der Singularitätsthese als Hindernis auf dem Weg zur nicht-kompetitiven globalen Erinnerung funktioniert nur deshalb, weil er nicht-mystifizierende Singularitätsthesen ebenso ignoriert wie das konkrete historische Ereignis des Holocaust und dessen Spezifika.
Dies betrifft insbesondere die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Rassismus und dem NS-Antisemitismus. Im letzten Hauptkapitel rekonstruiert Klävers, wie Giorgio Agamben und andere die NS-"Judenpolitik" derealisieren. Ohne schlüssige Argumente deute Agamben die totale Vernichtung nämlich lediglich als Manifestation eines bereits zuvor existierenden (Kolonial-)Rassismus und direkte Folge der westlichen Moderne. Die Moderne werde dabei nicht als Summe der widersprüchlichen Potentiale der Aufklärung zur umfassenden Emanzipation der gesamten Menschheit verstanden, sondern unterkomplex als reines Unterdrückungsprojekt interpretiert.
Klävers' zentrale Leistung besteht darin, minutiös herausgearbeitet zu haben, wie die Einordnung des Holocausts in eine kolonialgenozidale Logik mit einer theoretischen Blindheit für die Spezifik des Nationalsozialismus und insbesondere dessen Antisemitismus einhergeht. Hitlers Lebensraum-Idee etwa ist mit ihrer intendierten "völkischen Flurbereinigung" dezidiert gegen die kaiserlich-imperiale Kolonialkonzeption gerichtet und insofern spezifisch für die NS-Ideologie. Klävers zeigt eindrucksvoll, wie keine der von ihm untersuchten postkolonialen Zugänge zum Holocaust den pathisch-projektiven Antisemitismus als dessen Wesenskern zu erfassen vermag. Unter den Bedingungen des von ihnen entfesselten Zweiten Weltkrieges formulierten Deutsche einen totalen Vernichtungsanspruch gegenüber allen im Sinne der NS-Rassegesetze als "jüdisch" geltenden Männern, Frauen und Kindern. Das NS-Regime sah in letzteren Initiatoren einer jüdischen "Weltverschwörung", die gleichzeitig London, Washington und Moskau steuere. Diese Verschwörung, so die NS-Ideologie, dränge auf die Ermordung aller Deutschen und die Vernichtung Deutschlands (und eben nicht auf eine Kolonialisierung), wogegen der Massenmord dann als Notwehr umgedeutet werden konnte.
Dieses Narrativ findet sich in den rassistischen Kolonialverbrechen eben nicht. Daher läuft die Subsumierung des Holocaust unter den - aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ohnehin schwierigen juristischen - Begriff des Genozids auf einen inadäquaten Vergleich hinaus. Klävers führt vor Augen, wie dies in eine NS-Relativierung mündet, die "bestehende Spezifika im Rahmen einer komparativ-normalisierenden Interpretation nicht erfasst und ignoriert" oder gar leugnet (223).
Auch formal und stilistisch ist das Buch gelungen. Insgesamt schreibt Klävers zwar trocken, aber flüssig. Man merkt dem Text an, dass er den Gegenstand umfassend durchdrungen hat. Er präsentiert eine pointierte Zusammenstellung seiner gut durchdachten Gedanken, anstatt sich in Details zu verlieren. Zusammenfassende Wiederholungen leiten durch die intellektuell anspruchsvolle Thematik und vermeiden unnötige Redundanzen. Die Kapitel greifen gut ineinander.
Das Buch weist mit seiner zu kleinteiligen Gliederung allerdings einen in akademischen Qualifizierungsarbeiten verbreiteten Mangel auf. Hier wäre weniger mehr gewesen. Einzelne nummerierte Kapitelüberschriften für nur wenige Absätze umfassende Textabschnitte sind irreführend geraten. So nennt sich beispielsweise ein Unterkapitel "Zusammenfassung", führt aber den vorherigen Gedanken fort und neue Aspekte ein.
Abgesehen von diesem minimalen Mangel ist das Buch ein ausgesprochen sauber am Untersuchungsgegenstand entlang gearbeiteter und daher umso überzeugender Einspruch gegen die postkolonialtheoretische Ignoranz gegenüber der historischen Spezifik der Shoah. Gleichzeitig regt es die NS- und Antisemitismusforschung zur theoretisch fruchtbaren Auseinandersetzung mit Kolonial- und Rassismusforschung an und vermittelt kritische Impulse für zeitgemäße globale Erinnerungskulturen.
Philipp Dinkelaker