Rezension über:

Lesley Smith: Fragments of a World. William of Auvergne and His Medieval Life, Chicago: University of Chicago Press 2023, XII + 281 S., ISBN 978-0-2268-2618-9, USD 45,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Lesley Smith: Fragments of a World. William of Auvergne and His Medieval Life, Chicago: University of Chicago Press 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/38418.html


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Lesley Smith: Fragments of a World

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Das Jahr 1223 markiert das erste gesicherte Datum im Leben des Guillaume d'Auvergne. Zu diesem Zeitpunkt wurde er zum magister theologiae und Kanoniker an Notre Dame bestellt. Nur wenige Jahre später, 1228, erfolgte die Ernennung zum Bischof von Paris. Guillaume stammte aus dem Midi, wo er durch ungewöhnliche Geistesgaben auf sich aufmerksam machte und schließlich den Sprung nach Paris schaffte. Dort brillierte er an der sich eben konstituierenden Universität. Ein höheres Kirchenamt hat Guillaume wohl niemals angestrebt: Die Ernennung zum Bischof von Paris kam unerwartet. Nichts deutet darauf hin, dass er diese Position erstrebt haben könnte; zum Zeitpunkt seiner Ernennung war er noch nicht einmal Priester.

Die Untersuchung über Leben und Werk des Guillaume d'Auvergne aus der Feder der in Oxford lehrenden Lesley Smith wäre ohne die Vorarbeiten von Franco Morenzoni nicht möglich gewesen. Er war es, der in den Jahren 2010-2013 die erste kritische Edition des umfangreichen Predigtwerks in vier schwergewichtigen Bänden vorlegte, in einer Vielzahl von Artikeln Einzelaspekte behandelte, darüber hinaus aber vor allem auf Forschungsdesiderate hinwies. Im aktuellen Ringen um die Implementierung neuer Turns und Fragestellungen innerhalb der (mediävistischen) Geschichtswissenschaften droht eines in Vergessenheit zu geraten: Geschichte besteht nicht nur aus der Behandlung ewig gleicher Quellencorpora im Lichte neuer Fragestellungen, sondern ist ganz wesentlich auch das Ringen um die Erschließung neuer, unbekannter Texte. Diese Texte hat Franco Morenzoni auf mustergültige Art und Weise allgemein zugänglich gemacht - und Lesley Smith hat die Chance ergriffen, auf ihrer Grundlage ein Werk zu verfassen, das sich nicht als Beitrag zur historischen Theologie versteht, sondern sich weit in das Gebiet hinein vorwagt, das gemeinhin unter der Begrifflichkeit "Bischofsbiographie" subsumiert wird. Als caveat wird hier freilich vorausgeschickt, dass eine vollständige Betrachtung von Leben und Werk nicht angestrebt war - "in fact, each short section could easily form the basis of a research article, or occasionally even a book, of its own. I've tried to choose the fragments that I think do justice to the material that William himself provides for us, and to build on that." (11).

600 Predigten des Guillaume d'Auvergne sind bekannt - und was sie so interessant macht, ist die Tatsache, dass es sich dabei vor allem um Entwürfe, nicht um ausformulierte Musterpredigten handelt. Auch das weitere Schrifttum wurde von Lesley immer wieder berücksichtigt, wobei die Werke zur Bibelexegese ebenso wie die Predigtlehre (De Faciebus mundi) noch immer einer Edition harren.

Die Arbeit ist in 16, sehr gut lesbare Abschnitte gegliedert, die zwar einer groben Chronologie folgen, vor allem aber thematisch ausgerichtet sind (1. Seeing in a smoky mirror; 2. Home and Family; 3. Teachers and Teaching; 4. Paris; 5. Bishop; 6. Language; 7. Knowing; 8. Jews; 9. Women; 10. The Weak; 11. Poverty; 12. The Landed and the Monied; 13. Animals; 14. Food and Drink; 15. Death and Beyond; 16. Face to Face). Die Entscheidung gegen Fuß- und für Endnoten empfindet der Rezensent als unglücklich. Ein Index der Namen, Orte und Sachen erschließt den Band, der ein Füllhorn lebenspraktischen Wissens über dem Leser ausschüttet. Dabei macht sich die Autorin ein Phänomen zu Nutze, das Guillaumes Werk in ganz besonderer Weise auszeichnet, "his constant use of the everyday as a means of explaining God and faith, no matter how complex the theological point he is trying to make." (27). Guillaums Rhetorik "open(s) a window that looks back through centuries to a city stuffed with life." (71).

Guillaume agierte als Bischof, dem daran gelegen war, die Reformbeschlüsse des IV. Lateranum (1215) in seiner Diözese zu implementieren. Dazu stützte er sich vor allen Dingen auf die Bettelorden, die nicht nur an der Pariser Universität für Furore sorgten. Sie unterstützte er in ihrem Ringen um eine dauerhafte Präsenz im Lehrkörper, mit ihnen teilte er die Überzeugung von der Bedeutung guter Predigt. Guillaume selbst predigte hervorragend: "William's language is immediate, vivid, and down to earth." (72). Und doch vermittelte sich kaum etwas von diesem Ansehen, das Guillaume zu Lebzeiten genoss, an die Nachwelt. Ihr galt er nur noch als Bischof, in dessen Episkopat gegen die Juden vorgegangen und 1242 der Talmud verbrannt wurde. Dabei war Guillaume alles andere als ein erklärter Judenfeind. Er gehörte zu den ersten, die Maimonides lasen und zitierten und sah in den Vertretern des Judentums paternalistisch "Kinder", die der Hilfe bedürfen: "It is the rudeness that comes of paternalism, of the colonizer toward the native, and generally lacking in viciousness." (107).

In seinen Predigten spielen Frauen eine große Rolle - und dies nicht nur als durch die Ehe geschützte Mütter vieler Kinder. Guillaume war nicht unempfänglich für das, womit er in seiner Diözese konfrontiert war. Das Leid vieler Frauen gehörte (ebenso wie die grassierende Armut) dazu. Und so behandelte er Frauen, die (idealtypischerweise) innerhalb der Ehe friedvolle Sicherheit genossen genauso wie diejenigen, die im entgegengesetzten Spektrum zu verorten waren: Prostituierte. Noch vor seiner Ernennung zum Bischof soll er 1225 ein Haus (Filles-Dieu) für ehemalige Prostituierte gegründet haben. Die große Anschaulichkeit im Werk Guillaumes beruht nicht zuletzt auch auf seinem steten Insistieren auf Einzelschicksalen, die mehr waren als bloße, lebensnahe Exempla, mit denen er seine Predigten ausschmückte: "Each soul was individual - indeed, it was what gave each plant or animal its individuality, rather like a SIM card in a modern-day mobile phone." (126).

"Eigentum verpflichtet" - diesen Grundsatz vertrat Guillaume in seinen Schriften. Insbesondere denen, die über entsprechende Mittel verfügten, wurde (unter Einschluss der Bettelorden) immer wieder vor Augen geführt, dass Reichtum nur zu ephemerer Befriedigung führt. Die Aufforderungen, sich von Teilen dieser Reichtümer zu trennen, wurde von ihm als Akt pastoraler Sorge begriffen, sah er darin doch die Möglichkeit, eine Spirale aus Gier und Besitzakkumulation zu durchbrechen.

Guillaume wohnte in großzügigen Räumlichkeiten in unmittelbarer Umgebung des sich seit 1160 erhebenden gotischen Neubaus der Kathedrale Notre Dame. Guten Wein - unverdünnt (das lässt uns zumindest der Kämmerer Ludwigs IX., Jean de Beaumont, wissen, der das Vergnügen hatte, bei einem Festbankett im Bischofspalast in der Nähe des Bischofs zu sitzen) - mochte er ebenso wie gutes Essen. Die Häufigkeit und Detailfreude, mit der er von beidem spricht, öffnet ein Fenster hin zu seiner Küche, seiner Tafel und der Rolle, die beide innerhalb seiner Konzeption von Glück spielten. Doch auch hier wird klar vor einem Zuviel gewarnt: Der Akt des Erbrechens, den Guillaume mit verstörender Detailfreude beschreibt, dient ihm freilich dazu, auf die Wirkweise des Beichtsakraments aufmerksam zu machen, durch das man sich von seiner individuellen Sündenlast befreien kann.

Guillaume wurde 1249 in einem bescheidenen Grab hinter dem Chor der Abtei von St. Victor begraben - das Grab wurde in der Französischen Revolution zerstört. Seine Schriften gerieten mehr oder minder in Vergessenheit. Es ist Lesley Smith zu verdanken, dass einer (hoffentlich) breiten Leserschaft nun vor Augen geführt wird, dass sein "remarkable talent is his ability simultaneously to explain Christian belief in terms of the highest sophistication and the most common experience." (201). Doch damit nicht genug: Dadurch, dass sich der Blick nicht nur auf die Person, sondern auch auf ihr Umfeld richtet, wird ein derart breites Panorama entfaltet, dass (einem mundus in gutta-Prinzip folgend) die Arbeit sehr gut auch als Einführung in die städtische Lebenswirklichkeit in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts herangezogen werden kann.

Ralf Lützelschwab