Rezension über:

Daniel Williman / Karen Corsano (eds.): The World Chronicle of Guillaume de Nangis. A Manuscript’s Journey from Saint-Denis to St. Pancras (= Research in Medieval and Early Modern Culture; XXVIII), Berlin: De Gruyter 2020, XIII + 238 S., 5 Farb-, 17 s/w-Abb., ISBN 978-1-5015-1871-3, EUR 109,95
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Rezension von:
Mordechay Lewy
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Mordechay Lewy: Rezension von: Daniel Williman / Karen Corsano (eds.): The World Chronicle of Guillaume de Nangis. A Manuscript’s Journey from Saint-Denis to St. Pancras, Berlin: De Gruyter 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 12 [15.12.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/12/38280.html


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Daniel Williman / Karen Corsano (eds.): The World Chronicle of Guillaume de Nangis

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Habent sua fata libelli wird zwar auf Bücher gemünzt, aber man kann es auch auf Handschriften anwenden, wie aus dem vorliegenden Buch hervorgeht. Nicht viele mittelalterliche Handschriften haben das Glück, eine eingehende Biografie wie die British Library MS Royal 13 E IV erhalten zu haben. Meistens sind es kunstgeschichtliche oder historisch bedeutsame Handschriften wie z.B. das Evangeliar Heinrichs des Löwen. [1] Hier genießt der in der British Library vorliegende zehn Kilogramm schwere Kodex dieses Privileg, das anderen 21 Kopien der gleichen Weltchronik versagt wurde. Diesen Umstand zu begründen, bemüht sich das Forscherpaar Daniel Williman und Karen Corsano. Beide sind ausgewiesene Fachleute für Provenienzforschung von Handschriften.

Ihr Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste, methodisch ausgerichtete Teil, umfasst vier Kapitel, die die Genese der Weltchronik behandeln. Der zweite Teil beinhaltet sieben Kapitel und kann als narrativer, von der bibliophilen Hingabe der Autoren geprägte Teil beschrieben werden. Ein Vergleich mit Christopher de Hamels Meetings with Remarkable Manuscripts (2017) bietet sich an, wobei Hamels Buch einem höheren literarischen Anspruch genügt.

Einer Biografie entsprechend, beginnt der Band im ersten Kapitel (3-14) mit dem Geburtsort der Chronik in St. Denis und dem historiografischen Wirken samt der Stellung des Autors Wilhelm von Nangis in der Schreibstube des Klosters. Das zweite Kapitel (15-44) weitet die Familie der Handschriften im Vergleich zu der grundlegenden Arbeit von Léopold Delisle [2] von elf auf 22 aus. Auf der Grundlage eines Zensus aller ihnen bekannten Handschriften haben die Autoren ein stemma codicum erstellt, das für jegliche weitere Forschung zur Weltchronik von Nangis, einschließlich einer noch ausstehenden Volledition, unabdingbar sein wird. Es wird darin zwischen der ersten Redaktion aus dem Jahr 1303 (vier Handschriften) und der zweiten Redaktion (achtzehn Handschriften) unterschieden.

Das dritte Kapitel (45-62) beschreibt den Besitzverlauf von zwölf Kopien der Weltchronik.

Aneinandergereihte Fakten ergeben jedoch keinen historischen Zusammenhang. Das kurze vierte Kapitel (63-68) ist u.a. der technischen Beschreibung der Handschrift in der British Library gewidmet. Darin wird auch erklärt, wieso der Londoner Handschrift eine umfassende Biografie gebührt. Der Grund ist ein Kunstgriff, der frühestens seit 1275 in der Bibliothek der Sorbonne eingeführt wurde. Es ist die sogenannte dictio probatica (beweisführende Aussage), die ein Kennwort für jegliche ausgeliehene Handschrift mit einem besonderen Kennzeichen versieht. Da zu jener Zeit das Kopieren gleicher Texte (die als Textbücher im universitären Unterricht dienten) anstieg und verliehene Handschriften des gleichen Textes unterschiedlicher Erkennungszeichen bedurften, wurde - wie eigentlich üblich - nicht das incipit im Ausleihregister benutzt, sondern der Beginn der zweiten Zeile im zweiten Folium (secundo folio), die individuell ausfiel. Diese Praxis wurde im Mittelalter von großen Bibliotheken übernommen. Williman sammelte 50 Jahre lang diese mittelalterlichen Ausleihregister und digitalisierte sie zuletzt für seine Provenienzforschung. [3] Die Krönung seiner Bemühungen erreichte Williman, als er einen Kodex der lateinischen Weltchronik des Guillaume de Nangis aus dem Kloster St. Denis im Inventar des bibliophilen Herzogs von Berry aus dem Jahr 1415 mit dem französischen Vermerk Chronique de France, en latin de lettre de forme, qui se commence au second feuillet: Tisetvocatum mit der Katalogbeschreibung des Kodex MS Royal 13 E IV in der British Library verglich, wo sich folgender Vermerk fand: Chron.G.de Nangis 2f tisetvocatum. Obzwar die beiden Erkennungszeichen nicht den gleichen Buchnamen trugen und daher früheren Forschern nicht auffielen, hat Williman den Kodex in London eigenhändig untersucht. Er stellte fest, dass es sich um denselben Kodex handeln muss, den 1415 Johann von Berry von St. Denis auslieh. Für den ausgewiesenen Experten der Provenienzforschung ein glücklicher Fund, der sogar Delisle versagt blieb, als er nach allen in England befindlichen, aus der Bibliothèque National gestohlenen Handschriften suchte (Epilog 170-173).

Die Kapitel 5-11 (71- 170) beschreiben ausgiebig und manchmal ermüdend die vielen Stationen der Handschrift und die historischen Ereignisse, deren Zeuge sie vielleicht war. Es ist ein literarisches Genre, das an die fiktive Novelle Ilya Ehrenburgs erinnert "Dreizehn Pfeifen", die die moderne Geschichte Russlands anhand eines dreizehnfachen Besitzwechsels einer einzigen Pfeife beschreibt. Die Reise von St. Denis nach St. Pancras dauerte einige Jahrhunderte vom Herstellungsjahr 1304 durch den Schreiber Guillaume Lescot, über etliche Besitzstationen bis ins Jahr 1998, als der Kodex in St. Pancras im neuen Gebäude der British Library landete. Der Autor musste auf Spekulationen in der Reisebeschreibung des Kodex zurückgreifen, da er keine handfesten Beweise für das Schicksal der Handschrift zwischen den Jahren 1415 und 1525 finden konnte. Dieser fiktive Kunstgriff nimmt gerade in der Schlüsselfrage, wie der Kodex nach England gelangt sein könnte, einen gewichtigen Stellenwert ein.

Der Kodex ist in England erst um das Jahr 1525 mit dem Besitzvermerk des damals von Kardinal Wolsey entmachteten Herzogs von Norfolk Thomas Howard belegt. Dass der designierte Kaiser Sigismund 1416 den voluminösen Kodex nach England gebracht und der Georgskapelle auf Schloss Windsor geschenkt haben und er von dort an Thomas Howard weitergegeben worden sein könnte, um Platz zu gewinnen, ist nirgendwo dokumentiert. Die Randnotizen König Heinrichs VIII., der die Nangis-Chronik in Hinblick auf historische Präzedenzfälle königlicher Scheidungen ausschlachtete, belegen die Präsenz des Kodex in der Privatbibliothek des Königs. Sie sind für Forscher der Scheidungskampagnen von großem Interesse. Kurz nach dem Tod Heinrichs im Jahr 1547 wurde der Kodex in der königlichen Bibliothek registriert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich Giordano Brunos Aphorismus se non è vero, è molto ben trovato (wenn es nicht wahr ist, so ist es doch sehr gut erfunden) kaum in dem hier rezensierten Buch bewahrheitet.


Anmerkungen:

[1] Bernd Schneidmüller / Harald Wolter-von dem Knesebeck: Das Evangeliar Heinrichs des Löwen und Mathildes von England, Darmstadt 2018.

[2] Léopold Delisle: Mémoire sur les ouvrages de Guillaume de Nangis, in: Mémoires de l'Institut national de France 27 (1873), 287-372.

[3] Williman, Daniel / Corsano Karen: Tracing provenance by Dictio probatoria, in: Scriptorium 53 (1999), 124-145.

Mordechay Lewy