Andrea Brait / Claus Oberhauser / Irmgard Plattner (Hgg.): Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft. Standortbestimmung der Geschichtsdidaktik in Österreich (= Reihe der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich; Bd. 2), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2022, 264 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1547-0, EUR 31,90
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Dass der Standort "der" Geschichtsdidaktik als wissenschaftliche Disziplin an Pädagogischen Hochschulen und Universitäten im deutschsprachigen Raum seit Beginn ihrer länderspezifischen Etablierungen immer prekär und problematisch war, wissen diejenigen, die die Disziplingeschichten "der" Geschichtsdidaktik und die polemischen Einlassungen von innen und außen kennen. [1] Von Beginn an ging es dabei auch um Autonomie als eigenständige Disziplin und um Anerkennung im Feld der Geschichts- und Bezugswissenschaften. Auch die Herausgeber:innen des hier zu besprechenden Bandes erinnern in ihrer Einleitung an diese von außen zugeschriebene problematische disziplinäre Gestalt, wenngleich sie sich diesen Zuschreibungen offensiv entziehen und zu Beginn selbstbewusst verkünden: "Kaum ein Feld der Geschichtswissenschaften hat sich aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten derart dynamisch entwickelt wie die Geschichtsdidaktik im deutschsprachigen Raum" (7). Gleichwohl die Verwendung des Kollektivsingulars darüber hinwegtäuscht, dass es "die" Geschichtsdidaktik des deutschsprachigen Raumes sicher nicht gegeben hat, stellt der Band den Versuch dar, diese unterstellte dynamische Entwicklung des geschichtsdidaktischen Diskurses "im Sinne der drei Zeitdimensionen selbstreflexiv" (ebd.) für den Standort Österreich zu thematisieren. Der Band lässt sich damit nicht allein als Momentaufnahme des geschichtsdidaktischen Diskurses in Österreich verstehen, sondern lässt sich vielleicht auch als empirischer Beleg für diese Erfolgsgeschichte "der" Geschichtsdidaktik an Universitäten und Hochschulen des Landes lesen? Die Kriterien jedoch, die die Herausgeber:innen heranziehen, um eben diese Erfolgsgeschichte zu erzählen, bleiben sie den Leser:innen schuldig. Geht es um den disziplinären Erkenntnisfortschritt, die Institutionalisierung an Universitäten und Hochschulen oder um die Professionalisierung ihrer Akteur:innen? Der Band ist somit beides zugleich: "Standortbestimmung" und performative Setzung.
Diese vorliegende "Standortbestimmung", wie es der Untertitel formuliert, geht dabei zurück auf die 10. Jahrestagung der 2010 gegründeten "Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich" (GDÖ), die im Jahr 2019 in Innsbruck stattfand und gibt einen großen Teil der damals gehaltenen Vorträge in ausgearbeiteter Form wieder. [2]
Neben drei Beiträgen, die quasi von außen, aus der Schweiz und Deutschland, auf "die" Geschichtsdidaktik schauen, versammelt der Band neun Beiträge von österreichischen Geschichtsdidaktiker:innen, die zum größten Teil im Kontext von Qualifikationsarbeiten entstanden sind und mittlerweile einerseits abgeschlossen und teilweise bereits in monographischer Form vorliegen. [3]
Wer nach den Kriterien für die in der Einleitung von den Herausgeber:innen gesetzte dynamische Entwicklung der Geschichtsdidaktik fragt, wird im einleitenden Beitrag vom Obmann der GDÖ, Christoph Kühberger, fündig. Als einer der zentralen Protagonist:innen des geschichtsdidaktischen Feldes in Österreich der "letzten Jahre[...] und Jahrzehnte[...]" vermisst er darin zunächst das disziplingeschichtliche Feld einer österreichischen "Geschichtsdidaktik". Er findet zunächst die Geschichtsmethodiker Heinz Strotzka, Hermann Schnell und Karl Linke als "Persönlichkeiten der österreichischen Geschichtsdidaktik" (22), bevor er sich der Gegenwart, eben jener anderthalb Jahrzehnte widmet, um "Entwicklungen und Trends" (14) des geschichtsdidaktischen Feldes im Kontext von Lehrer:innenbildung, empirischer Forschung und Institutionalisierung an Universitäten und Hochschulen zu markieren. Mit einem dichten Anmerkungsapparat zeigt Kühberger dabei insbesondere mit Blick auf die Professionalisierung ihrer Akteur:innen, was er unter der "gefühlt dynamische[n] Zeit" (14) der Geschichtsdidaktik in Österreich versteht.
Widmet sich Kühberger "der" österreichischen Geschichtsdidaktik quasi von innen heraus, als teilnehmender Beobachter, so modelliert Peter Gautschi von außen einmal mehr und basierend auf seiner Praxis "die" Geschichtsdidaktik als "Design Science für historische Bildung". [4] "Will sie als Disziplin ihren Platz behalten und etablieren" (58), so fordert Gautschi für "die" Geschichtsdidaktik, müsse historische Bildung in das Zentrum geschichtsdidaktischer Forschungsbemühungen gesetzt werden. [5]
Ausgehend von den "Brüche[n] unserer Gegenwart" (63) und einer artikulierten Unzufriedenheit mit dem Status Quo der geschichtsdidaktischen Theoriebildung entwirft Lale Yildirim in ihrem Beitrag sozial- und gesellschaftstheoretisch informierte Zukunftsperspektiven für eine sich-positionierende Geschichtsdidaktik. Um "eine Theorie historischen Denkens für eine diverse Gesellschaft zu entwickeln" (72), so Yildirim in Erweiterung der Jeismannschen Formulierung, müsse die zentrale Kategorie "der" Geschichtsdidaktik "Geschichtsbewusstsein in der pluralen demokratischen Gesellschaft im digitalen Zeitalter lauten" (77).
Die folgenden Beiträge belegen dann die von Kühberger skizzierte empirische Orientierung der österreichischen Geschichtsdidaktik. So widmet sich der Beitrag von Johannes Brzobohaty anhand einer Analyse von "2670 Testarbeitsaufträgen aus 312 schriftlichen Tests" (80) der Frage, inwieweit diese Aufträge eben jenes reflektierte Geschichtsbewusstsein aktivieren, das auch im österreichischen Diskurs als zentrales Ziel schulischen Geschichtsunterrichts verstanden wird (95). Christian Pichler fragt anschließend nach den Performanzen historischen Denkens und ihrer Passfähigkeit zur Kompetenzorientierung historischen Lernens im Kontext von mündlichen Maturaprüfungen; Heinrich Ammerer sucht anhand teilstandardisierten Einzel-Leitfadeninterviews mit "ForschungspartnerInnen" aus Kindergarten, Sekundarstufe I und II und Hochschule "nach einer Entwicklungslogik historischer Verständnishorizonte"; Heike Krösche setzt sich vor dem Hintergrund bislang vorliegender Daten aus empirischen Erhebungen mit dem "Potential von Erklärvideos für das historische Lernen" (132) auseinander; Georg Marschnig reflektiert anhand einer Studie "zum materialgestützten [multiperspektivischen] Schreiben" (147) im Geschichtsunterricht die Herausforderungen einer sprachsensiblen Geschichtsdidaktik; Gabriele Danninger untersucht Friedensnarrative im historisch-politischen Unterricht und Andrea Brait das historische Lernen von Schüler:innen im Museum. Neben diesen empirischen Studien finden sich zwei Beiträge, die ursprünglich als Workshops auf der Tagung gehalten wurden und demzufolge eher pragmatische Zuschnitte haben. So benennt Wolfgang Buchberger "Möglichkeiten zur Förderung historischer Orientierungskompetenz" während Stephan Scharinger und Thomas Stornig anhand von Beispielen aus der Praxis des Geschichtsunterrichts für die "Dekonstruktion von Popsongs im historischen und politischen Kontext" plädieren.
Den Schlusspunkt des Bandes setzt noch einmal ein Blick von außen. So sehr Gautschi die Gegenwart der Vermittlungspraxis und Yildirim die Zukunft einer sich einbringenden Geschichtsdidaktik thematisieren, so sehr blickt Bodo von Borries am Ende des Sammelbandes noch einmal zurück auf seine "50 Jahre deutsche Geschichtsdidaktik". Und er entdeckt in erster Linie: sich selber. [6]
Versucht man den Band nun in der einleitend gesetzten Erfolgsgeschichte "der" Geschichtsdidaktik zu verorten, so kann anhand der einzelnen Beiträge, bei allen Disparitäten, konstatiert werden, dass sich eine österreichische Geschichtsdidaktik erkennen lässt. Gleichwohl auch diese Einordnung dabei von den im vorliegenden Band vorgestellten Einzelfällen abstrahiert, um mit dem letztlich disziplinierenden Blick Gemeinsamkeiten eines disziplinären Standorts zu finden, zeigt sich die dynamische Entwicklung "der" Geschichtsdidaktik in Österreich als Scientific Community insbesondere in den Graden ihrer Institutionalisierung an Universitäten und Hochschulen sowie in denen der Professionalisierung ihrer Akteur:innen. [7] Davon, dass sich "die" österreichische Geschichtsdidaktik in erster Linie als eine, empirisch-forschende und pragmatisch-ermöglichende, Geschichtsdidaktik für die Praxis des historischen Lernens im Geschichtsunterricht versteht, zeichnen die einzelnen Beiträge ein eindrückliches Bild. Aber und das ist letztlich wohl auch der vergleichsweise "späten" Akademisierung geschichtsdidaktischen Wissens geschuldet, bleibt der in der Einleitung der Herausgeber:innen angekündigte "selbst-reflexive" (7) Umgang mit der eigenen Disziplin und ihren Wissensordnungen weitgehend aus. So werden weder die übernommenen symbolischen Ordnungen des bundesrepublikanischen geschichtsdidaktischen Diskurses, etwa "das" Geschichtsbewusstsein oder "die" historische Orientierung, noch die eigenen, etwa das Kompetenzmodell des österreichischen Lehrplans, problematisiert, noch werden die Fallstricke einer geschichtsdidaktischen Kolonialisierung jugendlicher Bildungswelten, etwa den gerade bei Schüler:innen und Studierenden erfolgreichen Erklärvideos, thematisiert oder die disziplingeschichtlichen Verortungen im Modus wissenschaftlicher Reflexivität analysiert. [8] Der Diskussion um einen disziplinären Erkenntnisfortschritt innerhalb des, nicht nur österreichischen, geschichtsdidaktischen Diskurses, würde es deshalb gut zu Gesicht stehen, wenn wir lernen würden, von uns selber als Geschichtsdidaktiker:innen zu sprechen, ohne von uns selber, unseren geschichtsdidaktischen Brillen und ihrer disziplinierenden Funktionen, fortwährend zu schweigen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. bspw. für die Schweiz Béatrice Ziegler (Hg.): Geschichtsdidaktik - eine eigenständige Disziplin. Institutionalisierung, Verwissenschaftlichung und Professionalisierung in der Deutschschweiz, Bern 2023.
[2] Vgl. zum Tagungsprogramm 2019 online unter http://www.gdoe.at/wp-content/uploads/2019/08/Programm-Tagung-2019.pdf [zuletzt aufgerufen am 23.12.2023].
[3] Vgl. Christian Pichler: Geschichtsmatura. Eine empirische Untersuchung zum kompetenzorientierten Prüfungsmodus, Innsbruck 2020; Heinrich Ammerer: Geschichtsunterricht vor der Frage nach dem Sinn. Geschichts(unter)bewusstsein und die Optionen eines sinnzentrierten Unterrichts, Frankfurt am Main 2022; ders. Konzepte historischen Denkens und ihre Entwicklungslogik. Eine Studie zur Genese historischer Verständnishorizonte, Frankfurt am Main 2022.
[4] Vgl. Peter Gautschi: Geschichtsdidaktik "zwischen Stuhl und Bank". Suche nach dem orientierenden Kompass und dem Selbstverständnis der Disziplin, in: ZwischenWelten. Grenzgänge zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaften, Geschichtsdidaktik und Politischer Bildung. Festschrift für Béatrice Ziegler, hgg. von Konrad J. Kuhn / Martin Nitsche / Julia Thyroff u.a., Münster 2021, 186-200.
[5] Vgl. zur Kritik des hier zugrunde liegenden Konzepts historischer Bildung Christian Heuer: Lost in Transition - Über historische Bildung, in: Public History Weekly 10 (2022) 4, https://public-history-weekly.degruyter.com/10-2022-4/transition-history-education/.
[6] Vgl. hierzu auch Bodo von Borries: Geschichtslernen, Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik. Erinnerungen, Erfahrungsschätze, Erfordernisse. 1959/60-2019/20, Frankfurt am Main 2021.
[7] Vgl. Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, Bielefeld 2013, 17.
[8] Beckmesserisch aber vielleicht auch symptomatisch für diese fehlende Reflexivität nicht zuletzt auch der Peer-Reviewer sind die zahlreichen Fehler, die sich eingeschlichen haben. So gibt es beispielsweise die "Konferenz für Geschichtsdidaktik" bereits seit 1973 (7) und nicht erst seit 1995 und auch war es 1976 keine Tagung eben jener "Konferenz", sondern der Mannheimer Historikertag, auf dem Jeismann vom "Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft" sprach (76).
Christian Heuer