Markus Raasch: "Ein fürchterlicher Verrat"? Katholischsein und die Abschaffung der staatlichen Konfessionsschulen in Rheinland-Pfalz (1963-1973) (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen; Bd. 144), Paderborn: Brill / Ferdinand Schöningh 2023, X + 272 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-79154-2, EUR 79,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Christine Freytag / Sascha Salatowsky (Hgg.): Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte - Infrastrukturen - Praktiken, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019
Monika Wienfort: Katholizismus im Kalten Krieg. Vertriebene in Königstein 1945-1996, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2023
Maike Gauger-Lange: Die evangelischen Klosterschulen des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel 1568-1613. Stipendiaten - Lehrer - Lehrinhalte - Verwaltung, Göttingen: V&R unipress 2018
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in einigen deutschen Ländern die nach Konfessionen getrennten Bekenntnisschulen wieder als Regelschule etabliert. Ihre Dominanz bröckelte jedoch seit den 1950er Jahren, bis das Modell spätestens zu Beginn der 1970er Jahre ausgedient hatte. Seitdem galt die Gemeinschaftsschule als der Normalfall. Markus Raasch möchte diesen Transformationsprozess insbesondere für die in der Literatur eher kursorisch behandelten 1960er Jahren genauer analysieren. Der Blick auf das Land Rheinland-Pfalz, in dem die Abschaffung der Bekenntnisschule besonders umstritten war, dient ihm dabei als eine Art "Seismograf" (225), um dem Wandel des Selbstverständnisses der Katholikinnen und Katholiken in dieser Zeit nachzuspüren.
Damit greift Raasch Perspektiven und Fragestellungen auf, die in der DFG-Forschungsgruppe "Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland" im Vordergrund standen und in deren Rahmen das Buch entstanden ist. Die Forschungsgruppe hatte sich zum Ziel gesetzt, weniger auf die kirchlichen Strukturen und Institutionen zu blicken, sondern stärker in einem praxeologischen Sinn des "doing catholicism" zu analysieren, wie sich das Selbstverständnis der Katholikinnen und Katholiken in der Verschränkung mit gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik wandelte.
Vor diesem Hintergrund erscheint der zweiteilige Aufbau des Buches plausibel. Dabei ist der erste Teil der konventionellere. Hier zeichnet Raasch die politischen Entscheidungen der 1960er Jahre nach. Diese begannen 1963/64 mit der Zulassung der simultanen Ausbildung der Volksschullehrkräfte und der Abschaffung einklassiger Schulen. 1967 kam dann die Aufspaltung der Volksschulen in Grund- und Hauptschulen dazu, wobei die Hauptschulen de facto gemischtkonfessionell organisiert waren. 1969/70 wurden dann die konfessionelle Lehrerausbildung und die staatliche Konfessionsschule aufgehoben. Diese Entscheidungen waren bereits innerhalb der Landesregierung umstritten, wo vor allem die FDP, mit Unterstützung der oppositionellen SPD, die Entwicklungen forcierte, während die CDU in dieser Frage eher bremste. Hinzu kam der Widerstand der katholischen Kirche, die für den Erhalt der Bekenntnisschulen kämpfte. Letztendlich betont Raasch hier die bedeutende Rolle einer neuen Generation katholischer Politikerinnen und Politiker in der CDU wie Helmut Kohl, Bernhard Vogel oder Hanna-Renate Laurien. Diese hätten einen pragmatischeren Ansatz verfolgt als die vorherige Generation. Zu dieser zählt Raasch etwa den bis 1969 amtierenden Ministerpräsidenten Peter Altmeier oder den rheinland-pfälzischen "Verfassungsvater" Adolf Süsterhenn, welche die Konfessionsschulen vor allem aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit dem staatlichen Schulwesen während der Zeit des Nationalsozialismus vehement verteidigten. Dass gleichzeitig zum politischen Generationswechsel auch in den Bistümern ein Wechsel des Führungspersonals stattfand, erleichterte die Kompromissfindung.
Im zweiten Teil der Arbeit steht dann die "Bottom-Up"-Perspektive (145) im Vordergrund. Anhand von Fallbeispielen aus rheinland-pfälzischen Orten kann Markus Raasch den unterschiedlichen Umgang der Katholikinnen und Katholiken mit der Abschaffung der Bekenntnisschulen herausarbeiten. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Bandbreite an Reaktionen vor Ort. Diese reichten von bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit erbitterten Kämpfen der Eltern verschiedener Konfessionen, der Pfarrer und Kommunalpolitiker bis zur gleichgültigen Hinnahme des Wandels. Oft überlagerten sich die religiösen Konflikte auch mit bereits vorhandenen kommunalpolitischen Frontstellungen. Dabei wird deutlich, dass sowohl bei einem Teil der landespolitisch engagierten Katholikinnen und Katholiken als auch auf lokaler Ebene große Hoffnungen auf den katholischen Privatschulen ruhten. Als Kompensation für die Abschaffung der staatlichen Konfessionsschulen wurden die Privatschulen von staatlicher Seite üppig alimentiert. Die Erwartungen an die katholische Privatschule differierten in katholischen Kreisen jedoch deutlich. So gab es auf der einen Seite die "konservativen Idealisten" (217), die einen Ort der Ruhe und Geborgenheit vor den Stürmen der Zeit schaffen wollten, und auf der anderen Seite die "vom emanzipatorischen Geist der 1960er Jahre getragenen" (218) Progressiven. Diese strebten eine "Musterschule der demokratischen Gesellschaft" (218) an. Beide einte die Erwartung, dass die katholische Privatschule einen besonderen Lebensraum schaffen könne, in dem Schüler, Lehrer und Eltern das Katholischsein auch als Gemeinschaftsgefühl erfahren sollten.
Mit seinem Ansatz gelingt es Markus Raasch somit sehr überzeugend, die bisherige politik- und institutionenzentrierte Analyse des Wandels von der Konfessionsschule zur gemischtkonfessionellen Schule deutlich zu erweitern. Durch die Perspektive von unten und die Erschließung neuer Quellen, etwa durch Zeitzeugeninterviews, kann der Verfasser insbesondere die Sicht der Betroffenen anschaulich einfangen. Auf diese Weise liefert das Buch nicht nur vertiefte Erkenntnisse über den Wandel des Katholizismus, sondern schärft auch den Blick auf eine zentrale Bildungsreform und ihre Durchsetzung im Kontext der Debatten über die vermeintliche "Bildungskatastrophe" (Georg Picht) in den 1960er Jahren.
Henning Türk