Daniela Taschler / Tim Geiger / Tim Szatkowski (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1992, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 2 Bde., CII + 1872 S., ISBN 978-3-11-099724-8, EUR 154,95
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Die vom Institut für Zeitgeschichte verantwortete Publikation der Akten zur Außenpolitik der BRD (AAPD) geht bewundernswert ihren ruhig laufenden Gang. In international singulärer Form gelingt es - mit diesem 30. Band seit 1993 - jeweils am Anfang des Kalenderjahres (in der Regel) zwei dicke Bände für die je 30 Jahre zurück liegenden Ereignisse zu publizieren. Der Vergleich ergibt: Die lange führende US-Publikation der FRUS plant (in Amtszeiten der Präsidenten) wesentlich mehr und damit tiefer reichende Bände, ist aber in der Ausführung ins Stocken geraten. Zur Carter-Administration (1977-1981) fehlen noch etliche Bände; für die Reagan-Administration (1981-1989) sind 58 Bände geplant, doch weniger als ein Drittel liegt vor. Für die G. W. Bush-Präsidentschaft (1989-1993) stehen 33 Bände in Aussicht - jedoch nur einer zu Somalia ist schon in der Deklassifizierung, für die folgende Clinton-Administration sind 55 Bände vorgesehen, und zu einem kleinen Teil bereits in Bearbeitung. Die französischen DDF sind nur bis 1974 vorgedrungen, die Briten liefern gelegentlich einmal thematische Publikationen; bei fast allen anderen Ländern mit solchen Publikationen sind die Rückstände noch größer. Allein aus der Schweiz liegt Anfang 2024 bereits der Band für 1993 vor; sie hat im Übrigen einen überzeugenden Weg zur Hybridpublikation einer Fülle weiterer Aktenstücke online gefunden, von denen sich auch die AAPD einiges abschauen könnte.
Was haben die AAPD 1992 zu bieten? Gemäß einem Relaunch zur Edition des letzten Jahres liefern die drei HerausgeberInnen Stefan Creuzberger, Hélène Miard-Delacroix und Andreas Wirsching einen insgesamt wohl formulierten Überblick über die Highlights des Jahres gemäß den dann gedruckten Aufzeichnungen (IX-XXI). Eine Inhaltsrezension an dieser Stelle könnte dies nochmals verkürzt tun; stattdessen seien einige eher subjektive Lesefrüchte mitgeteilt, die gerade im Lichte der nachlaufenden Geschichte Bemerkenswertes akzentuieren. Großen Raum nehmen die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien ein, ebenso die im Nahen Osten nach dem Irakkrieg, auch Amerika, Afrika und Asien kommen in vielfältigen Formen vor.
Aber ein paar andere Akzente: 1992 war erstmals seit dem Umbruch von 1989 wieder ein halbwegs "normales" Jahr aus Bonner Sicht: Die Sowjetunion brach Ende 1991 zusammen; der Vertrag von Maastricht wurde am 7. Februar unterzeichnet. Gewiss machte die Ratifizierung in einigen Ländern - so zumal Frankreich und Dänemark - Schwierigkeiten, die diplomatisch aufgefangen werden mussten. Am spannendsten waren die Fragen, die sich aus dem Verfall der Sowjetunion ergaben. Außenminister Genscher besprach schon in den ersten Tagen des Jahres mit dem russischen Botschafter im Hinblick auf EG und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten, "eine der Einheit Europas entsprechende Verbindung zu schaffen" (Dok.1). Russische Vertreter, voran Außenminister Kosyrew, erörterten offen mit ihren Gesprächspartnern die Schwierigkeiten im Auseinanderleben der GUS, aber auch die zunehmenden inneren Spannungen. Den Höhepunkt bildete Kohls Besuch bei Jelzin (Dok. 419 und 420) im Dezember, bei dem Jelzin von einer "Wegscheide" sprach, in der "konservative Kräfte eine Wende um 180 Grad herbeiführen könnten" (1661).
Breiten Raum nehmen die Gespräche mit den neuen Staaten der Ex-Sowjetunion ein, hier die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Abwicklung. Gerade im Hinblick auf die Ukraine erkundigte man sich immer wieder nach den Verhältnissen um die Krim (Präsident Krawtschuk: eindeutige Dokumente für Zugehörigkeit zur Ukraine, Dok. 32, vgl. Dok. 151), lässt sich über die Auseinandersetzungen um die Schwarzmeerflotte unterrichten. Neben der Frage einer Aufteilung der Nuklearwaffen ging es an vielen Stellen um die Sicherheit der Waffen (Dok 97). Vor allem die Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbeidschan um Berg-Karabach hatten hohes Gewaltpotenzial. Kohl traf sich u.a. mit den Staatspräsidenten der drei baltischen Staaten, welche die sowjetischen Truppen im Land als ihr Hauptproblem bezeichneten, der estnische Präsident sprach gar von "Dekolonisierung" (Dok 172).
Wichtiger war aber die gesamteuropäische neue Ordnung. Bereits Ende 1991 wurde ein Nordatlantischer Konsultationsrat (NAKR) eingerichtet, um informell eine Einbindung sowohl der aus dem sowjetischen Machtbereich ausgeschiedenen Staaten Osteuropas als auch der GUS-Staaten zu schaffen. Dieser tagte viermal und schien einen guten Rahmen zu geben, mit dem diese Staaten zwar nicht direkt in die NATO, aber in vergleichbare Strukturen der friedlichen Zusammenarbeit gebracht werden könnten. Überschneidungen der Kompetenzen von NATO, Europäischer Union und KSZE wurden sorgfältig beobachtet und schienen positive Möglichkeiten zu bieten. "Der NAKR hat schon jetzt für beachtliche Transparenz und den Aufbau einer stabilen Vertrauensbasis zwischen NATO und früheren Gegnern (incl. RUS) gesorgt" (10.11. 1992 - Dok. 365): hier wolle man weiterarbeiten. Freilich wollten sich die Diplomaten dem saarländischen Ministerpräsidenten und stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Lafontaine nicht anschließen, der Sicherheitsgarantien der NATO für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion ins Spiel gebracht hatte: Das sei in der NATO wohl nicht konsensfähig - wie wollen man Kasachstan gegen etwaige russische oder chinesische Übergriffe schützen? (Dok. 23). Erschwert wurden solche Fragen nach einer neuen gesamteuropäischen Ordnung u.a. auch durch die Differenzen zwischen Frankreich und den USA, wobei die deutsche Politik eindeutig auf der weiteren Zugehörigkeit Nordamerikas zur neuen Sicherheitsordnung beharrte.
Man hoffte in Deutschland, bei allen Schwierigkeiten mit und in Russland (die sich auch bedingt in der finanziellen Abwicklung der deutschen Einheit zeigten) doch langfristig gut zurecht zu kommen. ("Bleibt Russland auf Kurs?" - 21. 8., Dok. 257). Aber: trotz ihres Status als Nuklearmacht schien sie vom "Antagonisten zum Mitspieler des Westens und Juniorpartner der USA geworden" zu sein (Dok.275). Deutsche Gesprächspartner sprachen gelegentlich wesentlich stärker abwertend über den gegenwärtigen Status Russlands ("Trend zur Renationalisierung und zum zaristischen Denken"- Ministerpräsident Major, GB, Dok. 302).
In der Edition finden sich wie üblich zahlreiche Gesprächsprotokolle von Kanzler Kohl bzw. den Außenministern Genscher und Kinkel (ab Mai) mit sprechenden, aber naturgemäß diplomatisch vorsichtigen Formulierungen. Es hat den Anschein, dass sich Kinkel noch stärker als sein Vorgänger um Menschenrechtsfragen kümmerte. "Für uns stellt die Verletzung von Menschenrechten keine innere Angelegenheit eines Staates dar, sie betrifft die Staatengemeinschaft als solche" (Dok. 286 Ministerialdirektor Elbe). Es gab deutliche deutsche Initiativen zu einem internationalen Strafgerichtshof. Diskussionen um einen Einsatz der Bundeswehr in internationalem Rahmen finden noch keine Lösungen.
Neben den "großen" Gesprächsprotokollen drucken die AAPD erfreulich viele Positionspapiere zu wichtigen Sachverhalten, oft "zur Unterrichtung". Dabei ragen die des Russlandreferenten Klaus Neubert, die des Leiters der Planungsabteilung Frank Elbe und des Staatssekretärs Dieter Kastrup quantitativ wie qualitativ hervor - natürlich zumeist ihrer Position geschuldet. Sehr erhellend für die Denkrichtung im AA sind darüber hinaus allgemeine Ausarbeitungen etwa über die Afrikapolitik als solche (Dok. 319), Nuklearwaffen der Sowjetunion (Dok. 96) über den politischen Islam, über die Krim, Moldau (Dok. 211), Kaliningrad (Dok. 224), Erinnerung an die Schlacht von Stalingrad (Dok. 341), Antisemitismus (Dok. 362) und manche mehr. Auf diesem Wege sollte die Edition weitergehen.
Der Standard der AAPD genügt weiterhin höchsten Ansprüchen: die Anmerkungsdichte bei den Dokumenten mit Querverweisen etc. ist hoch und zeugt von entsagungsvoller Arbeit. Dasselbe lässt sich vom Sachregister sagen, wo neben den ubiquitären "Abkommen und Verträge" sowie "Konferenzen und Verhandlungen" auch die sehr viel schwieriger zu erfassenden abstrakten Sachverhalte die angemessene Aufmerksamkeit bekommen. Einige, schon in vorhergehenden Besprechungen zu den AAPD geäußerte kritische Einwände seien hier jedoch wiederholt, obwohl die Herausgeber einleitend meinen, der "Relaunch" habe große Zustimmung gefunden: die Abbildungen - beliebige Fotos - sind rein illustrativ. Es bedarf keiner zwei Namenregister, zum einen das der Beamten des AA mit Funktionsbezeichnung, zum anderen aller Namen ohne diese. Am Anfang steht ein Dokumentenverzeichnis von 50 Seiten, das auch ein sehr gutes, knappes Regest der späteren Dokumente ergibt. Diese selbst jedoch benennen nach wie vor in bürokratischer Selbstgefälligkeit in der Überschrift (etwa "Drahtbericht des Gesandten Heinichen"), der wiederum im Betreff nicht unbedingt auch den folgenden Inhalt trifft. Das kann man sehr viel benutzerfreundlicher machen - wenn man es denn wollte. Doch das schmälert nichts an den Verdiensten der überaus gründlichen Bearbeiter; die Edition bleibt qualitativ wie quantitativ internationale Spitze. Vermutlich liegt bei Erscheinen dieser Rezension bereits der Folgeband für 1993 vor.
Jost Dülffer