Jay Howard Geller: Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2020, 463 S., ISBN 978-3-633-54305-2, EUR 25,00
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Gab es um 1900 eine deutsch-jüdische Antwort auf die sogenannte "Judenfrage"? Um dieses Problem dreht sich die hier zu besprechende - bewegende - Familie-Biografie. Der amerikanische Historiker Jay Howard Geller exemplifiziert anhand der Berliner Familie Scholem diverse Lebenswege in den Krisen des 20. Jahrhunderts. Die Lebensgeschichten der vier Söhne von Arthur und Betty Scholem bieten Geller eine Projektionsfläche für seine Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutsch-jüdischen Bürgertums: Der Älteste, Reinhold, neigte zum deutschen Nationalismus, Erich sah im aufgeklärten Liberalismus die Zukunft der Juden in Deutschland besser gesichert, Werner war überzeugter Kommunist, und der Jüngste, Gerhard (später Gershom), ging den jüdisch-nationalen, den zionistischen Weg.
Dabei stellt Geller die innerjüdische Frage: "Über welche Wahlverwandtschaften fühlten sich die Juden in Deutschland miteinander verbunden, besonders als die Religion ihre regulierende Kraft für sie verlor?" (14) Der Autor will die Lebensgeschichte der Scholems "innerhalb ihrer eigenen Sozialwelt und diese im Kontext der umgebenden deutschen Gesellschaft darstellen und schließlich auf die Welt des deutsch-jüdischen Bürgertums im Exil verweisen" (16). Er bietet eine facettenreiche, lesenswerte Geschichte einer ganzen Lebenswelt: von der Emanzipation und Assimilation der Juden im Kaiserreich, ihrem Aufstieg, ihrer Integration, ihrem beachtlichen Beitrag zur deutschen Wirtschaft, Politik und Kultur bis hin zum verheerenden Schicksal der Ausgrenzung und Verfolgung, die in Exil und Vernichtung gipfelte.
Das erste Kapitel "Ursprünge - Von Glogau nach Berlin" rekonstruiert die Herkunft der Familie aus dem Schlesischen und legt die Bedeutung der Einbürgerung der Juden im Königreich Preußen dar, beginnend mit dem Edikt König Friedrich Wilhelms III. "betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staat" vom 11. März 1812.
Das zweite Kapitel "Berliner Kindheit um 1900 - Aufwachen in der aufstrebenden Metropole" beschreibt den Aufstieg der immer stärker assimilierten Familie von Druckereibesitzern. Besondere Aufmerksamkeit gilt hier den zwei "Rebellen" unter den Scholems: Werner mit seinem "Sozialismus Marx'scher Prägung" (70) und Gerhard mit seiner "Leidenschaft für jüdische Geschichte und dem gelehrten Interesse an jüdischer Religion" (73).
Im dritten Kapitel "Alles zerfällt - Der Erste Weltkrieg" werden gerade in der Krise die konträren Wahlverwandtschaften manifest: Während die beiden älteren Brüder vom Anfang bis zum Ende am Krieg teilgenommen hatten, positionierten sich die jüngeren durchgehend äußerst kritisch, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. "Werner verstand sich als revolutionärer Sozialist im Sinne Rosa Luxemburgs." (83) Gerhard zeigte sich überzeugt, "dass jüdische Seelen nicht geopfert werden dürfen", daher missbilligte er den Krieg "gerade aus jüdischer Sicht" (84). Gerhard verfasste eine Protesterklärung, die im patriotischen Deutschland mit einem Schulverweis endete; als Soldat wurde er aus gesundheitlichen Gründen vom Militär entlassen. Werner kämpfte zwar und wurde sogar verwundet, doch er radikalisierte sich immer mehr gegen den deutschen Nationalismus, wurde schließlich wegen Majestätsbeleidigung angeklagt und zu neun Monaten Haft verurteilt. Gellner beschreibt das sehr angespannte Verhältnis von Vater Arthur zum kommunistischen Sohn; als Werner seine nicht-jüdische Freundin heiratete, "kam es zum endgültigen Bruch" (96).
Das vierte Kapitel "In revolutionären Zeiten - Die frühe Weimarer Republik" schildert die äußerst krisenhafte Nachkriegszeit. Auch hier gilt das Augenmerk den jüngeren Scholems: Werner radikalisierte sich weiter, trat 1919 der neu gegründeten KPD bei und vertrat sie mit Leidenschaft im Reichstag. Der 25jährige Gerhard zog dagegen 1923 nach dem Studium in München endgültig nach Palästina: "Beide waren streitlustige Intellektuelle, die gegen die deutsch-jüdische bürgerliche Welt ihrer Eltern rebellierten, nur schlug Gershom einen anderen Weg ein als Werner. Statt in einem universellen Klassenkampf aufzugehen oder sich eine hybride deutsch-jüdische Persönlichkeit zuzulegen, entschied er sich für eine besondere jüdische Identität." (140)
Im fünften Kapitel "Die goldenen Zwanziger und danach - Verheißung, Wohlstand und Elend in der Zwischenkriegszeit" skizziert Geller die undurchsichtige politische Lage: "Die vermeintliche Morgenröte Mitte der 1920er Jahre entpuppte sich bald als Trugbild. Zwar blühte in Deutschland um 1928 ein vielfältiges Judentum, aber der Antisemitismus war keineswegs gebannt. Er lebte mit der Weltwirtschaftskrise und dem wirtschaftlichen Zusammenbruch sogar wieder auf. 1924 aber, als die Krisen der ersten Jahre der Republik überwunden waren, schien die Zukunft der Deutschen, einschließlich der jüdischen unter ihnen, verheißungsvoll, und noch 1932 konnte niemand die Schrecken von Buchenwald und Auschwitz erahnen." (150)
Um die Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungsgeschichte der Scholems geht es im siebten Kapitel "Der Mahlstrom - Jüdisches Leben in Nazideutschland". Vor allem Werners verheerendes Schicksal der siebenjährigen Gefangenschaft in den Konzentrationslagern Lichtenburg, Dachau und Buchenwald, wo er schließlich 1940 ermordet wurde, kommt hier zur Sprache. Auch die Ausgrenzung, Enteignung und schließlich Vertreibung der anderen Scholems werden in aller Ausführlichkeit beschrieben - bis hin zur Flucht von Reinhold und Erich 1938 nach Sydney; die Mutter schloss sich 1939 an, nachdem alle Versuche gescheitert waren, Werner frei zu bekommen.
Dass es Gerhard am besten getroffen hatte, zeigen das sechste Kapitel "Im Gelobten Land - Neue Heimat Jerusalem" und das siebte Kapitel "Die fünfte Welle - Gershom Scholems Palästina in den 1930er Jahren". Der Autor verfolgt den rasanten Aufstieg des Gelehrten bis zu seiner Berufung 1933 zum Professor für Jüdische Mystik an der 1925 neu gegründeten Hebräischen Universität. Bemerkenswert ist Gershom Scholems Verständnis der Palästinafrage und damit des jüdisch-arabischen Konflikts. Sein Kulturzionismus im Sinne Achmad Haams gehe - so Geller - Hand in Hand mit seiner Kritik am politischen Zionismus: "Scholem hatte sich seit langem dem Ideal einer 'Normalisierung der Juden' widersetzt. Die Juden seien kein Volk wie alle anderen und sollten es seiner Ansicht nach auch nicht werden. Die Vorstellung, dass ein jüdischer Staat [...] die Juden zu einem Volk wie jedes andere mache, war nur ein weiterer Grund, sich gegen den politischen Zionismus seiner Zeit zu stellen". (201) In diesem Kontext versteht Geller Gershom Scholems Engagement für die 1925 gegründete Brit Schalom (Friedensbund), die eine jüdisch-arabische Verständigung im Sinne eines Zweivölkerstaats in Palästina anstrebte. Geller spricht sogar von einer Entfremdung vom Mainstream-Zionismus (272); nach 1967 habe er die Annexion der besetzten Gebiete ausdrücklich abgelehnt. (303)
Bleibt die zionistische die ultimative Antwort auf die "Judenfrage"? Das abschließende Kapitel "Nachleben - Sydney und Jerusalem" befasst sich mit den hybriden Identitäten von Gellers Helden. Erich konvertierte zum orthodoxen Judentum und "lehnte das Deutsche offen ab" (288). Reinhold hingegen "stand seinem Heimatland näher. Er weigerte sich, Hitler die Definitionsmacht darüber zu überlassen, was ein Deutscher sei." (290) Reinhold und Gershom führten eine "hitzige Debatte" über die historische Bedeutung der Juden für die deutsche Kulturgeschichte (290). Doch gerade an Gershoms ausgeprägter Ambivalenz gegenüber Israel und Deutschland illustriert Geller, wie offen die Frage der innerjüdischen Identität auch für den überzeugten Kulturzionisten blieb, "der die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, sich von seiner deutschen Identität zu distanzieren", aber "dennoch eine enge Verbindung zu Deutschland" behielt (302). Er schrieb in beiden Sprachen und genoss großes Ansehen in beiden Ländern, auch wenn er ein Jecke blieb. Zugleich positionierte er sich deutlich in seinem 1964 publizierten Aufsatz "Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen 'Gespräch'" (306). Dies hinderte ihn wiederum nicht daran, "sich [...] aktiv für den Dialog, und sogar für eine Versöhnung" zu engagieren, "obwohl er an deren Erfolg zweifelte" (307). Gerhard Scholem nahm bis zum Lebensende teil an diesem Dialog (308). An dem kulturzionistischen Professor für jüdische Mystik, dessen erheblicher Einfluss auf den religiös-messianischen Zionismus nicht von der Hand zu weisen ist, zeigt Gellers lehrreiches Werk, inwieweit die "Judenfrage" auch im zionistischen Jahrhundert ungeklärt blieb.
Anmerkung der Redaktion:
Eine kürzere Fassung dieser Rezension erschien bereits in der Historischen Zeitschrift 314 (2022), 526-528.
Tamar Amar-Dahl