Rezension über:

Britta von Voithenberg: Rurbanität in der Großstadt. Dresden und München 1870 bis 1914, Göttingen: Wallstein 2024, 440 S., 83 z.T. farb. Abb, ISBN 978-3-8353-5595-8, EUR 46,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Clemens Zimmermann
Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Clemens Zimmermann: Rezension von: Britta von Voithenberg: Rurbanität in der Großstadt. Dresden und München 1870 bis 1914, Göttingen: Wallstein 2024, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 3 [15.03.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/03/38944.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Britta von Voithenberg: Rurbanität in der Großstadt

Textgröße: A A A

Im Diskurs der us-amerikanischen Landsoziologie er 1920er- bis 1940er-Jahre hob der Begriff der "Rurbanität" auf Phänomene gesteigerter räumlicher Mobilität ab, klassisch in Form der Zuwanderung lohnarbeitender Klassen, die in den Städten bessere Lebensverhältnisse zu erreichen suchten. So, wie sich auf dem Land urbane Errungenschaften, Telefon, Zeitungen, fließend warmes Wasser, bessere schulische Möglichkeiten ausbreiteten, wie sich die Landwirtschaft monetarisierte und von städtischen Produktionsgütern abhängig wurde, so wurde die Stadt durch Grünflächen, Gärten und die Ausbreitung von Einfamilienhäusern ruralisiert. Die Rurbanisierung schien außerdem auf eine Angleichung bäuerlicher Familien an den urbanen Mittelschichtstypus mit limitierter Kinderzahl hinauszulaufen. Wo indes die Soziologen falsch lagen, war ihre Prognose, dass sich in den USA städtische Ideologien wie der Sozialismus auf dem Land verbreiten würden.

An diesen Diskurs knüpft die auf breiter archivalischer Grundlage fußende Münchner Dissertation von Britta von Voithenberg zumindest indirekt an: In ihr wird Rurbanität - vor dem Hintergrund deutscher Stadtentwicklungen - wie folgt definiert: Zum einen als Phänomen, wonach innerhalb der administrativen, sich in aller Regel ausdehnenden Stadtgrenzen durchaus Landwirtschaftsbetriebe und "intakte dörfliche Organisationsstrukturen" fortexistierten, zum anderen, dass sich in den Städten "neue rurale Baustile" ausbreiteten und sich die agrarischen Wirtschaften in den Umgebungen auf "Bedürfnisse des urbanen Marktes" einstellten (112). Im Zuge neuer Konsumgewohnheiten und hygienischer Regulierungen veränderte sich in den Städten zwar die Form der Tierhaltung, diese blieb aber anhaltend stark verbreitet (163). Weiteres Kennzeichen für die Rurbanität war nach Voithenberg die Nutzung von Pferden als tierische Motoren bei den neu eingerichteten, schlichtweg als urbane Errungenschaft geltenden Straßenbahnen, auch wenn diese nach einiger Zeit elektrifiziert werden sollten. Darüber hinaus hebt die Autorin auf die generelle Präsenz von Tieren und die hohe Bedeutung von Hausgärten in den zahlreichen eingemeindeten Stadtteilen ab, die sich in ihrer Ökonomie, Gestalt und Kultur deutlich von den Stadtzentren unterschieden.

Eine solche Charakterisierung verweist zunächst auf ältere Phasen der Stadtgeschichte. In den kleinen Städten der Frühen Neuzeit waren Tierhaltung und Gartenbau verbreitet, teils wurde auch Landwirtschaft betrieben. Gerade in den Beispielstädten München und Dresden dürfte dies bis zum Ersten Weltkrieg im Gegensatz zu Berlin noch Tradition gehabt haben. Dresden galt als Gartenstadt, der spezialisierte Erwerbsgartenbau stellte einen beachtlichen Wirtschaftszweig dar (260-270). In der stadtgeschichtlichen Forschung ist ferner geläufig, dass in der Hochphase der Urbanisierung eine hohe Zahl der Städter aus gerade zugewanderten Landbewohnern bestand. Schließlich ist der Hinweis der Verfasserin berechtigt, dass sich in München ein "bedächtiger, eher verspäteter infrastruktureller Ausbau" vollzog, die Citybildung hier langsam erfolgte und man an durchgehender Planung und "großer Industrieansiedlung kein Interesse hatte", sondern sich als Kunststadt verstand (90- 91). Zu bedeutenden künstlerischen Aufbrüchen war man hier dennoch in der Lage.

Voithenbergs Studie ist sowohl sorgfältig ausgearbeitet und hervorragend visualisiert als auch anschlussfähig an neuere Diskurse über das "Ländliche in Stadtentwürfen", was darauf verweist, dass "Land" und "Ländlichkeit" nicht nur aufgrund 'harter' demographischer Indikatoren der Bevölkerungsdichte oder der infrastrukturellen Ausstattung definiert werden können, sondern "Raumbilder" einbezogen werden sollten. [1] Die Verfasserin steht euphorischen Konzepten von Modernisierung und Moderne sehr skeptisch gegenüber, verweist auf Rückschläge beim Stadtwachstum, scheint von dessen Tempo weniger beeindruckt. Sie knüpft an die 'animal studies' an sowie an die inzwischen zahlreichen Studien, die nicht vom Gegensatz von Stadt und Land ausgehen, sondern ihre Mischformen und wechselseitigen Beziehungen betonen. [2] Insbesondere ist es der Autorin gelungen, sozial- und kulturgeschichtliche Kategorien zu verbinden. So reicht das Themenspektrum des Buches von der lebensnotwendigen Eigenwirtschaft von Arbeiterfamilien bis zum praktischen und symbolischen Stellenwert der "ländlichen" Ausflugsgaststätten. Auch diese konnten die emotionale Seite von "Land" inmitten der Stadt ansprechen.

Die Studie korrigiert so herkömmliche Vorstellungen von "Urbanität", die auf der Grundlage von Metropolendiskursen gewonnen wurden, ohne wiederum romantisierenden Vorstellungen allzu sehr zuzuneigen. Denn es wird deutlich, dass die Ernährungsgrundlage solcher großen und wachsenden Städte wie München und Dresden nur über einen weitreichenden Agrarmarkt und eine intensivierte Landwirtschaft gesichert werden konnte. Auch die Bedeutung der Eingemeindungspolitik deutscher Städte, die dadurch Reserveflächen für Bauten und Naherholungsgebiete gewannen, erscheint hier in neuem Licht. Durch Karten wird belegt, wie sich in den Peripherien sporadisch Fabriken und Arbeiterquartiere herausgebildet hatten; freilich verdichtete sich dann in den folgenden Jahrzehnten die Bebauung, sollten sich schließlich 'edge cities' und Trabantensiedlungen herausbilden.

Die beeindruckende, quellengesättigte Studie belegt, dass es ländliche Kulturformen gibt, die in anderen sozialen Kontexten weiterleben, d.h. dass das "Ländliche" als Kultur auch in strukturell als urban zu definierenden Kontexten existieren kann.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Sigrun Langner: Bilder des Ländlichen im Stadt- und Landschaftsplanung. In: Dorf. Ein interdisziplinäres Handbuch, hgg. von Werner Nell / Marc Weiland, Stuttgart 2019, 304-312.

[2] Vgl. Brigitta Schmidt-Lauber / Georg Wolfmayr: Rurbane Assemblagen. Vorschlag für eine übergreifende Untersuchung von alltäglichen Aushandlungen von Stadt und Land. In: Das Ländliche als kulturelle Kategorie. Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land- Beziehungen, hgg. von Manuel Trummer / Anja Decker, Bielefeld 2020, 23-44.

Clemens Zimmermann