Johannes Großmann: Zwischen Fronten. Die deutsch-französische Grenzregion und der Weg in den Zweiten Weltkrieg (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. 34), Göttingen: Wallstein 2022, 541 S., 20 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5210-0, EUR 48,00
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Katharina Anna Groß: Visualisierte Gegenseitigkeit. Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11. Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich), Wiesbaden: Harrassowitz 2014
"Dieses Buch handelt vom Krieg in Friedenszeiten und vom Frieden in Kriegszeiten." Mit diesen Worten leitet Johannes Großmann seine Geschichte der Deutsch-Französischen Grenzregion vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg ein (12). Wenn auch Grenzregionen und Grenzräume seit den 1990er Jahren wieder vermehrt Thema geschichtswissenschaftlicher Forschung sind, so eröffnet die hier gebotene Perspektive mit dem Blick auf kriegsbedingte Evakuierungen oder Befestigungsbauten innovative Ansätze in einem präzise recherchierten, dicht geschriebenen aber dennoch gut zu lesenden Band.
Großmann verfolgt das Vorhaben, Gemeinsamkeiten und Gegensätze der gesellschaftlichen, sozialen und erinnerungspolitischen Folgen von Grenzlandpropaganda, Festungsbau und Kriegsauswirkungen aufzuzeigen. Hierzu nutzt er eine Verschränkung von transnationaler, transregionaler und vergleichender Geschichte und löst sogar mehr ein, als der Titel der Studie verspricht. Keineswegs werden Leserinnen und Leser nur über den Weg der deutsch-französischen Grenzregion in den Zweiten Weltkrieg informiert. Besonders der erinnerungspolitische Nachhall der Besatzungs- und Evakuierungserfahrungen, den er bis in die Gegenwart nachzeichnet, eröffnet breite Perspektiven sowohl für die regionale wie auch die (trans-)nationale Geschichtsschreibung.
Gegliedert ist die Studie in drei Teile zu je drei Kapiteln. Der erste Teil widmet sich dem "Grenzland" ausgehend von seiner bedeutenden Rolle in der Nationsbildung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu den Auswirkungen der spürbaren Militarisierung des Alltagslebens vor Kriegsbeginn. Neben der bereits in der Forschung präsenten Lesart des Festungsbaus als Momentum wirtschaftlichen Aufschwungs stellt Großmann die zunehmend gewaltsamen Auseinandersetzungen im Umfeld der Arbeiterlager heraus; ein für den deutschen Westwallbau zu beobachtendes Spezifikum, das sich in dieser Intensität allerdings nicht auf die französische Seite übertragen lässt. Festungsbauprojekte beiderseits der Grenze werden als "Katalysator[en] eines fremdenfeindlichen Stimmungsumschwungs" (109) apostrophiert, denn es wird deutlich, dass die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Minderheiten über die Grenze hinweg ein Kontinuum darstellte. Die transnationale Kontextualisierung der Novemberpogrome 1938 bietet Potenziale für eine länderübergreifende Studie zum Erstarken rassistischer und antisemitischer Tendenzen in sich auf einen Krieg vorbereitenden Gesellschaften. Damit stellt Großmann auf mehreren Ebenen - propagandistisch, in der Aufrüstung und dem Bau der Wehranlagen, wie auch in der zunehmenden Normalisierung alltäglicher Gewalt gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen und Minderheiten einen "Kriegszustand in Friedenszeiten" (150) fest.
Der zweite Teil widmet sich unter dem Schlagwort "Binnenkriege" den sich in Bewegung befindlichen Menschen und den Räumen des Grenzgebiets. Die durch den Bau der Befestigungsanlagen erzwungene Mobilität der Bevölkerung bringt sowohl soziale Konflikte als auch Geschlechterdifferenzen verstärkt zum Vorschein. Erstere lassen sich den Erhebungen Großmanns zufolge in Deutschland wie in Frankreich räumlich bereits zum Zeitpunkt der Flucht, an der Art des Reisens und besonders anhand von Unterbringung und Akzeptanz in den Aufnahmegebieten abbilden. Die Geschlechterdifferenz zwischen der evakuierten und den aufnehmenden Gebieten tritt anhand der Migration von mehrheitlich Frauen mit ihren Kindern und älteren Menschen zutage, wodurch ein fast ausschließlich männlicher Raum im Grenzgebiet konstruiert wurde. Als weitreichende Folgen der Evakuierungen lassen sich Chaos und behördliche Überforderungen (besonders in Deutschland), die Hierarchisierung von Staatsbürgerschaft und ethnischer Zugehörigkeit, die Verstärkung des Überwachungs- und Verfolgungsapparates und - auf deutscher Seite - auch die Ausprägung der polykratischen Struktur des NS-Staats feststellen. Aufschlussreich erscheint auch die Tatsache, dass Religiosität und Konfessionalität in der Evakuierungserfahrung wieder an Bedeutung gewonnen haben, da die Ankommenden in den Evakuierungsgebieten häufig in eine zu Minderheitenposition gerieten; das Zusammengehörigkeitsgefühl sowie die Stellung des Geistlichen wurden auf diese Weise gestärkt.
Unter dem Titel "Kriegs(t)räume: Reproduktionen des 'Grenzlands'" widmet sich der dritte Teil der Studie neben dem Heimatverständnis der Evakuierten der Rückkehr und dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Gebiete sowie den Narrativen von und Erinnerungen an die Evakuierung. Besonders die Zeitlichkeit und Orts(un)gebundenheit von Erinnerung überzeugt: So wirkt die zweite Evakuierung 1944/45 im individuellen wie auch im jeweiligen nationalen Gedächtnis deutlich präsenter. In Deutschland etwa wurden die Evakuierungserfahrungen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten im Vergleich zur Erinnerung an Luftkrieg, die Fluchtbewegung aus den Ostgebieten und den Einmarsch der Alliierten vollständig marginalisiert. Diese Bagatellisierung wurde in der historischen Forschung bislang übernommen, beschränkte sich diese fast ausschließlich auf die Folgen für das Grenzgebiet, während der oft mehrmonatige Aufenthalt der evakuierten Bevölkerung im Landesinneren vollständig ausgeblendet wurde. Daraus resultierte in der Rekapitulation Großmanns eine "geschlechtsspezifisch aufgeladene Trennung zwischen einer weiblich-zivilen und einer männlich-militärischen Sphäre der Erinnerung. Die Erfahrung der Evakuierung stand für Schwäche, Leid und Passivität. Hingegen wurde die männliche Kriegserinnerung, die den öffentlichen Diskurs bis weit über das Kriegsende hinaus dominierte, mit Attributen wie Stärke, Mut und Heldentum verbunden" (434). Mit der Feststellung dieser geschlechtsspezifischen Form der Bildung von Erinnerungsnarrativen in regionalen Gemeinschaften wie auch auf nationaler - von Erinnerungspolitik getragener - Ebene eröffnet Großmann eine Möglichkeit, die bestehende Forschungslücke zur geschlechtsspezifischen Prägung der Erinnerung in der Bundesrepublik wie auch in Frankreich zu schließen.
Eine weitere Perspektive eröffnet die Schlussbetrachtung mit der These einer "ständigen Zirkulation und wechselseitigen Beeinflussung von Besatzungspraktiken" (452), der zufolge einer zunehmend brutaleren Kriegführung im Osten enthemmende Tendenzen im Vorfeld des Krieges im Westen vorausgegangen sind. Laut Autor habe dies als "Katalysator für die Radikalisierung eugenischer und antisemitischer Maßnahmen und als Praxistest für die Eingliederung eroberter Territorien" gedient, was die Gewaltdynamiken und die sukzessive Radikalisierung im Nationalsozialismus in einen breiteren, nicht nur zeitlichen und räumlichen, sondern auch praxeologischen und emotionsgeschichtlichen Kontext stellt.
Zusammenfassend hinterlässt die Studie in der Wahl des Forschungsgegenstands, der alltags- und erfahrungsgeschichtlichen Ausrichtung und der umfangreichen Archivarbeit einen durchweg positiven Eindruck. Sie bringt die Forschung in transnationalen Kontexten ebenso nach vorne, wie sie selbst die Lokalforschung aufgrund akribischer Quellenarbeit und deren breiter Kontextualisierung zu bereichern weiß.
Lena Haase