Rezension über:

Aggelos Kapellos (ed.): The Orators and Their Treatment of the Recent Past (= Trends in Classics - Supplementary Volumes; Vol. 133), Berlin: De Gruyter 2022, IX + 531 S., 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-079181-5, EUR 144,95
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Rezension von:
Katharina Kostopoulos
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Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Kostopoulos: Rezension von: Aggelos Kapellos (ed.): The Orators and Their Treatment of the Recent Past, Berlin: De Gruyter 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38017.html


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Aggelos Kapellos (ed.): The Orators and Their Treatment of the Recent Past

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Nachdem die Erinnerungskultur in der athenischen Rhetorik in den letzten Jahren verstärkt von der Forschung beachtet wurde, setzt es sich der vorliegende, von Angelos Kapellos herausgegebene Sammelband zum Ziel, die rezente Vergangenheit, ihre Nutzung und Verargumentierung in der athenischen Rhetorik des vierten Jahrhunderts v.Chr. umfassend darzustellen. Als rezente Vergangenheit wird durch Kapellos in der Einleitung eine Zeitspanne von etwa zwanzig Jahren angegeben. Durch die größere Vertrautheit der Zuhörer mit den nicht lange zurückliegenden historischen Ereignissen hätten diese - gerade vor Gericht - auch eine stärkere argumentative Wirkung haben können als die weiter zurückliegende Vergangenheit (2-3).

Zu jedem der zehn attischen Redner findet sich mindestens ein Beitrag, hinzu kommen Betrachtungen zu Platons Menexenos, zu Reden des Apollodoros, Hegesippos sowie zur Rhetorik ad Alexandrum. Abgesehen von den beiden einleitenden Kapiteln finden sich lediglich zwei übergreifende Beiträge (zur Rezeption der Eroberung von Samos 366 v.Chr. und zu den Inschriften der rezenten Vergangenheit). Aufgrund der Überlieferungslage und der unterschiedlichen Prominenz der (rezenten) Vergangenheitsbezüge bei den Rednern sind die einzelnen Betrachtungen naturgemäß quantitativ sehr unterschiedlich. Während die Untersuchung zu Antiphon lediglich fünf Druckseiten umfasst, wird die Thematik in den Reden des Demosthenes in insgesamt sechs Beiträgen ausführlich behandelt. Insgesamt beinhaltet der Band 29 Beiträge und bietet somit eine umfassende Darstellung unter unterschiedlichen Fragestellungen und Schwerpunkten. Ziel dieser Rezension soll es deshalb vor allem sein, die zugrundliegenden Fragestellungen und Methodiken genauer in den Blick zu nehmen. Die Inhalte der einzelnen Beiträge sollen hier lediglich punktuell betrachtet werden, um bestimmte Punkte besser zu beleuchten.

In den beiden einleitenden Kapiteln von Angelos Kapellos und Thomas Blank stechen zwei unterschiedliche wissenschaftliche Herangehensweisen bei der Untersuchung der Vergangenheitsbezüge in der attischen Redekunst hervor. Bei Kapellos ("The Orators and their Treatment of the Recent Past: Introduction", 1-22) finden sich Fragestellungen, mit denen sich die Forschung zu den Vergangenheitsbezügen bereits seit Jahrzehnten befasst [1], die aber natürlich auch bei dem Schwerpunkt auf die rezente Vergangenheit gestellt werden können und die umso mehr ins Auge fallen, da die Ereignisse jeweils noch nicht lange zurückliegen: Welche 'Fehler' können bei der Schilderung vergangener Personen und Ereignisse ausgemacht werden? Fehler meint hier vor allem die Abweichungen von den historiographischen Werken und anderen Quellen. Besonders betont werden in diesem Zusammenhang manipulative Absichten der Redner, die durch bewusste oder unbewusste Falschaussagen die Zuhörer in ihrem Sinne beeinflussen wollen. Diese Fragestellungen bilden den Schwerpunkt einiger Beiträge des Sammelbandes, wie beispielsweise Kappelos' eigener Beitrag zum platonischen Menexenos oder Peter Rhodes zu [Lysias] 20.

Thomas Blank ("Methodical Remarks on the 'Truthfulness' of Oratorical Narrative", 23-46) fordert hingegen eine Abkehr von einer rein funktionalen Untersuchung historischer Beispiele und Erzählungen, also von der Konzentration auf 'Fehler' und Vergleiche mit der historiographischen Überlieferung, und eine stärkere Fokussierung auf Fragestellungen der Erinnerungskultur, auf die Dynamik historischer Erzählungen sowie auf die generelle Bedeutung von Geschichte und Geschichten für die politische Kultur der athenischen Demokratie. Er betont in diesem Zusammenhang richtig die "differences between ancient Greek and modern concepts of historical truth" (23) [2] und verweist darauf, dass "when it came to narrating the recent past, Athenian orators were, in fact, less using or manipulating established narratives than they were at the forefront of shaping such narratives from the background noise of many-voiced rumour and publicly tangible moods." (29).

In Hinblick auf die Rhetorik als Teil einer dynamischen Erinnerungskultur sind besonders die Untersuchungen von Peter A. O'Connell, "Facts, Time, and Imagination in Demosthenes and Aeschines" (323-342), Joshua P. Nudell, "Remembering Injustice as the Perpetrator? Athenian Orators, Cultural Memory, and the Athenian Conquest of Samos" (447-463), sowie James Sickinger, "State Inscriptions from the Recent Past in the Attic Orators" (465-480), der als einziger materielle Strukturen als sichtbare Zeugen auch der rezenten Vergangenheit in den Mittelpunkt stellt, hervorzuheben.

Insgesamt halten sich die meisten der Beiträger an den gesetzten zeitlichen Rahmen der rezenten Vergangenheit, lediglich in den Untersuchungen von Frances Pownall, Yun Lee Too und Nathan Crick nehmen davon ausgehend die länger zurückliegende Vergangenheit, wie beispielsweise die Geschichte der Peisistratiden, die Rolle des Areopag in der athenischen Geschichte sowie die Perserkriege und Erzählungen zur Autochthonie einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Der Beitrag von Cinzia Bearzot erscheint eher als ein historischer Kommentar zu Lysias 34, die übergeordnete Fragestellung des Sammelbandes spielt dagegen nur eine untergeordnete Rolle. Auffällig sind auch wenige verallgemeinernde Aussagen: So wird im Beitrag von Edward M. Harris in Bezug auf die Volksversammlungsreden des Demosthenes auf die Redner insgesamt geschlossen (86). Irreführend ist auch die pauschale Aussage von Zhichao Wang (415): "In the Assembly and courtroom, Attic orators of the fourth century seldom mentioned distant history." Hier sollte immer zwischen den einzelnen Rednern und Redeanlässen differenziert werden. Kritisch zu betrachten ist außerdem das von Frances Pownall angeführte Konzept einer "mainstream democratic master narrative" (68; 75), das in zahlreichen Forschungsarbeiten der letzten Jahre diskutiert wurde und nach Ansicht der Rezensentin ein allzu homogenes Bild der athenischen Erinnerungslandschaft suggeriert. Thomas Blank hat in der Einleitung dazu treffend formuliert: "In fact, cultural memory never achieves a status of perfect homogeneity, but remains in a constant state of change. This social quality of history as 'communicative memory' seems particularly relevant for the narration of very recent events." (26). Auch die sehr kritische Einstellung gegenüber der athenischen Rhetorik als reine Propaganda (Crick, besonders 395) oder auch als Grund für den Zusammenbruch der Demokratie (Brun 319) kann sicherlich zahlreiche Diskussionen anregen.

Der Band wird durch einen allgemeinen Index und eine umfangreiche Zusammenstellung der Quellenstellen abgerundet. Insgesamt handelt es sich um ein Sammelwerk, das die Frage der Einbindung rezenter Vergangenheitsbezüge in der athenischen Rhetorik des 4. Jahrhunderts v.Chr. umfassend aus den unterschiedlichsten Perspektiven, Fragestellungen und methodischen Herangehensweisen heraus beleuchtet und damit zu zahlreichen weiteren Forschungsfragen an die athenische Erinnerungskultur beitragen wird.


Anmerkungen:

[1] Stellvertretend sei hier nur Michel Nouhaud : L'utilisation de l'histoire par les orateurs attiques, Paris 1982 genannt.

[2] Vgl. hierzu zuletzt die wertvolle Analyse von Katharina Wojciech: Wie die Athener ihre Vergangenheit verhandelten. Rede und Erinnerung im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr., Berlin/Boston 2022. Die Untersuchung - wie auch einige weitere zuletzt erschienene deutschsprachige Titel - finden in den meisten Beiträgen des Sammelbandes leider keine Beachtung.

Katharina Kostopoulos