Rezension über:

Avi Shlaim: Three Worlds. Memoirs of an Arab-Jew, Oxford: Oneworld Publications 2023, IX + 324 S., 34 s/w-Abb., ISBN 978-0-86154-463-9, GBP 25,00
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Rezension von:
Tamar Amar-Dahl
Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tamar Amar-Dahl: Rezension von: Avi Shlaim: Three Worlds. Memoirs of an Arab-Jew, Oxford: Oneworld Publications 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 4 [15.04.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/04/38498.html


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Avi Shlaim: Three Worlds

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Wie verhalten sich persönliche Erinnerungen zur Geschichte von Migration beziehungsweise Nationsbildung? Der israelisch-britische Historiker und emeritierte Professor für Internationale Beziehungen am St. Antony's College in Oxford erklärt seine Sicht der Dinge (6 f.): "This book is a personal story of a young Iraqi-Jew told by a professional historian. It recounts my early life up to the age of eighteen in Iraq, Israel and England, but from the vantage point of a scholar of Arab-Israeli conflict. [...] My personal experience is used to illustrate and illuminate a much bigger story, the story of the Jewish exodus from Iraq following the establishment of the state of Israel in 1948. The result is an autobiographical fragment, a family story and, hopefully, a glimpse into the rich and lost word of the Iraqi-Jewish community."

In zwölf Kapiteln erzählt Avi Shlaim die Migrationsgeschichte seiner Familie und die eigene Exilgeschichte im Kontext der Gründung des jüdischen Staates. Sein Verhältnis zum zionistischen Israel charakterisiert er zu Beginn des ersten Kapitels "Arab-Jews" so: "If I had to identify one key factor that shaped my early relationship to Israel society, it would be an inferiority complex." (5) Tatsächlich sind die innerjüdischen Spannungen zwischen dem aschkenasisch orientierten Israel und den jüdischen Neueinwanderern aus den arabischen beziehungsweise muslimischen Ländern für Shlaims Buch von zentraler Bedeutung. Die Immigration von etwa 850.000 arabischen Juden nach 1948 und ihre anschließende systematische Diskriminierung bezeichnet der Autor als "Forced Exodus", als "Jewish Nakba" (17).

In den folgenden Kapiteln "Inventing Iraq" und "Iraqi Roots" rekonstruiert Shlaim Herkunft und Geschichte seiner wohlhabenden jüdisch-irakischen Großfamilie in der Metropole Bagdad - vom Untergang des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zum britischen Mandat. Betont wird dabei die tiefe Verwurzelung der Familie in der irakischen Hauptstadt. Der Geschichte von Shlaims Mutter ist das vierte Kapitel - "Saida's Story" - gewidmet. Überhaupt spielt Saida in diesen Memorien eine zentrale Rolle: Wegen des Geburtsorts ihrer Eltern in Indien besaß Shlaims Mutter einen britischen Pass. 1950 sollte dieses Faktum eine wichtige Rolle spielen, als sie Bagdad mit drei kleinen Kindern verließ. Interessant dabei: Sie nahm auch nach ihrer Übersiedlung nach Israel nie die israelische Staatbürgerschaft an, auch im hohen Alter nicht. Ihre kritische Haltung gegenüber dem jüdischen Staat erklärt Shlaim nicht zuletzt mit der Ausbildung seiner Mutter in der renommierten Bagdader Alliance Israélite Universelle, deren Motto war: "to maintain Jewish communities as integral members of their respective societies" (57).

Doch die hier zelebrierte jüdisch-muslimische Koexistenzgeschichte im Irak nahm eine unerfreuliche Wende: Der Zweite Weltkrieg und die politische Instabilität unter der britischen Vorherrschaft waren der Hintergrund für den ersten Pogrom gegen Juden in Bagdad. Dieser - als Farhud - bezeichnete Pogrom fand im Juni 1941 statt und dauerte zwei Tage. Das fünfte Kapitel - "The British Connection" - erklärt den Hintergrund: Irakisch-nationalistische, anti-britische, damit pan-arabistische Kräfte machten die Juden verantwortlich für die gescheiterte Unabhängigkeit des Irak: Sie seien zu pro-britisch und profitierten von der britischen Vorherrschaft. Muslimischer Antisemitismus? Nicht für die Mutter. Für sie sei es ein "more complex phenomenon" (67), zumal ausreichend Muslime zur Hilfe geeilt seien. Der Historiker Shlaim meint hierzu, man habe es nach Jahrhunderten friedlicher Koexistenz mit einem Einzelfall zu tun: Der Farhud habe die Juden Bagdads zwar verängstigt, doch die Briten hätten dafür gesorgt, dass die Ereignisse untersucht worden seien und dass die Geschädigten Kompensationen erhalten hätten.

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieg kam Shlaim in der irakischen Hauptstadt zur Welt, die er im sechsten Kapitel - "My Baghdad" - als Paradies darstellt: Bagdad sei nämlich eine "multi-ethnic metropolitan city, home to different minorities" gewesen (88). Die wohlhabende Großfamilie lebte urban, säkular und geradezu unbeschwert: Clubs, Karten-Abende, Reisen seien an der Tagesordnung gewesen, ebenso selbstverständlich wie nichtjüdische Freunde. Alles in allem habe das Judentum eine kulturelle, nicht religiöse Rolle gespielt.

Umso übergriffiger sei die zionistische Agitation im Irak gewesen. Das siebte Kapitel - "Baghdad Bombshell" - thematisiert die wenig glorreichen Versuche der zionistischen Bewegung, die irakischen Juden zur Immigration nach Israel zu zwingen. Hier zieht der Autor auf der Basis von Archivquellen folgendes Fazit: Das zionistische Israel habe hinter den 1950 verübten beiden Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Bagdad gestanden, und zwar mit dem Ziel, die Juden der Stadt einzuschüchtern. Die irakische Regierung ging allerdings auch gegen Juden vor, die des Zionismus' verdächtig waren, was der jüdischen Bevölkerung schließlich zum Verhängnis wurde. Ab Juni 1950 - binnen eines Jahres - emigrierten rund 110.000 irakische Juden nach Israel: "A Jewish presence that went back two and a half millennia, to the destruction of the First Temple and the Babylonian exile, came to a sudden and painful end." (111) Für den Autor handelt es sich um einen "Cruel Zionism" (151).

Denn die irakischen Juden seien nicht nur nicht-zionistisch gewesen, sie hätten sich auch in erster Linie als Iraker verstanden. Für die meisten bedeutete das Leben im neu gegründeten Israel außerdem einen eindeutigen und schmerzhaften Abstieg. Das achte Kapitel - "Farewell Baghdad" - beschreibt den Abschied der Familie Shlaim von der geliebten Hauptstadt und die Reise im Juli 1950 in ein unbekanntes Land. "Promised Land" und "Adrift" sind die beiden Kapitel überschrieben, in denen der Autor die Erinnerungen an seine Jugend in der israelischen Trabantenstadt Ramat Gan zusammenfasst. Alles in allem tat sich die Familie sehr schwer, in Israel Fuß zu fassen, obwohl sie - anders als viele andere jüdische Immigranten - nicht ohne Hilfe und Mittel war: Verwandte nahmen sie nach ihrer Ankunft in Israel auf, durch den Verkauf des Hauses in Bagdad fehlte es auch nicht am Startkapitel. Dennoch ist die Geschichte, die Shlaim erzählt, die Geschichte eines dramatischen Abstiegs.

Der Aspekt der ethnisch-kulturellen und sozio-ökonomischen Spannungen zwischen den arabisch- und europäisch-stämmigen Juden, der die israelische Gesellschaft über Jahrzehnte hinaus prägen sollte, spielte in den 1950er Jahren für die Familie eine wichtige Rolle: Äußerst besorgt über die schwachen Schulleistungen ihres Sohnes setzte die Mutter alles daran, damit dieser mit schon 15 Jahren eine Schule in England besuchen konnte. So emigrierte Shlaim im September 1961 erneut: "without as much as backward glance" (238): Die Kapitel "London" und "Awakenings" runden die Erinnerung geradezu optimistisch ab: Er habe die Freiheit weit entfernt von der vielschichtigen Problemzone Israel genossen. Dazu sei er in der Schule höchst motiviert gewesen, nicht zuletzt, um die kostspiele Familieninvestition in seine Ausbildung nicht zu enttäuschen. Was vom einstigen Reichtum der Großfamilie geblieben war, setzte die Mutter für die Ausbildung ihres Sohnes ein, der für den zweijährigen Militärdienst mit 18 Jahren nach Israel zurückkehren musste, doch nur um anschließend das Land erneut zu verlassen und ein Studium in England aufzunehmen.

Der Historiker gehört mit seinen früheren Werken Collusion Across the Jordan: King Abdullah, the Zionist Movement, and the Partition of Palestine (1988) und The Iron Wall: Israel and the Arab World (2000) zu den sogenannten Neuen Historikern. Diese kritische israelische Historikergeneration aus den 1980er und 1990er Jahren forderte das zionistische Gründungsnarrativ heraus - wenn auch noch eher vorsichtig. Dennoch fällt Shlaims Urteil hart aus (301): "By its very nature, the Zionist movement deepened the divisions between Israelis and Palestinians, between Israel and the Middle East, between Judaism and Islam, between Hebrew and Arabic. The Zionist movement and the State of Israel have actively worked to erase our [Jewish-Arab] common past, our intertwined histories and our centuries-old heritage of pluralism, religious tolerance, cosmopolitanism and co-existence. Above all, Zionism has discouraged us from seeing each other as fellow human beings."

Tamar Amar-Dahl