Julia Seeberger: Olfaktorik und Entgrenzung. Die Visionen der Wienerin Agnes Blannbekin (= Nova Medivaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter; Bd. 21), Göttingen: V&R unipress 2022, 364 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-1409-3, EUR 50,00
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Die vorliegende Arbeit Seebergers führt den Leser in fünf Kapiteln fort vom originären Untersuchungsgegenstand der Sinnesgeschichte im Sinn des 'Pesthauchs und Blütendufts' Corbins hin zu den mystisch-visionären olfaktorischen Erfahrungen der Begine und Franziskanerin Agnes Blannbekin. Dabei werden die Rolle und die Funktion des Geruchs(sinns) in den überlieferten Visionen in den Blick genommen.
Das erste Kapitel erläutert die Forschungsgeschichte zu Agnes Blannbekin und führt in die Sinnesgeschichte ein.
Die Handschriften und die Überlieferungssituation bilden den Schwerpunkt des zweiten Kapitels, wobei nicht nur eine kritische Auseinandersetzung mit der Editionslage erfolgt, sondern auch das Todesdatum der Protagonistin von Seeberger auf den 22. April 1315 korrigiert wird, das bislang von Dinzelbacher, Vogeler und von Görres auf den 10. Mai 1315 gelegt wurde, da eine verlorene Neresheimer Handschrift von den X. Kal. Maji. handelte.
Die Biografie der Agnes wird ausführlich im dritten Kapitel verhandelt, wobei auch eine akribische Auseinandersetzung mit der wohl bekanntesten Vision, der gustatorischen praeputium-Erscheinung nicht fehlt und in die Praxis der Vorhautverehrung und deren Forschungsgeschichte eingeordnet wird.
Im visionären Werk, so die These, haben die Sinne eine Kommunikationsfunktion nach außen. Die biologischen Sinne werden durch Spielleute in franziskanischer Tradition symbolisiert, treten im Zustand der Visionserfahrung jedoch zurück und werden dann in der Kommunikation mit Gott durch ein Sinnespendant, das in einer Spiegelmetapher beschrieben wird, durch geistliche Sinne ersetzt, von denen der Geruchssinn einen darstellt. Wie die biologischen Sinne unterliegen auch die geistlichen einer Hierarchie, doch einzig durch den (geistlichen) Geruchssinn vereinigt sich in einem Höhepunkt der mystischen Erfahrung und Entgrenzung die Seele Agnes' mit Gott.
Mit großer Präzision werden die olfaktorischen Visionen, wie das Küssen des Altars, kontextualisiert und theologisch beleuchtet, und es wird auch auf mögliche intertextuelle Bezüge verwiesen. Dem wahrgenommenen Wohlgeruch beim Küssen der Altäre tritt antithetisch entsprechend der Gestank entgegen, der Agnes dann entgegenschlägt, wenn sie sich nicht andächtig genug verhält und ihr die mystische Vereinigung mit Gott deshalb verwehrt bleibt. Eine Auseinandersetzung mit olfaktorischen Visionen im Rahmen von Eucharistiewundern fehlt ebenso wenig wie die Darlegung der Wahrnehmung von Wohlgeruch, der die Geruchsprofile von Geistlichen kennzeichnet, die Agnes, vermittelt durch Gott, deren geistliche Qualitäten und moralische Einstellungen signalisieren. Dabei handelt es sich, so Seeberger, um eine Distinktionsform, die bereits sowohl bei Hildegard von Bingen als Kennzeichnung des sozialen Geruchs von Gruppen, als auch bei Mechthild von Magdeburg zur Stigmatisierung unkeuscher Domherren zu finden ist.
Seeberger legt mit ihrer Arbeit ein sowohl argumentativ als auch sprachlich gründliches Werk vor, dem es nicht an Sorgfalt und Konkretheit mangelt.
Monja Schünemann