Brier Robert: Poland's Solidarity Movement and the Global Politics of Human Rights (= Human Rights in History), Cambridge: Cambridge University Press 2021, xvi + 269 S., ISBN 978-1-108-47852-6, GBP 75,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Im Zentrum des zu besprechenden Buches stehen die Friktionen, die sich aus der Rezeption der Solidarność-Bewegung von unterschiedlichen geografischen und politischen Standpunkten aus ergeben haben. Man könnte auch sagen, dass Robert Brier ein Buch über Solidarność in der Welt vorgelegt hat. Beschrieben werden die historischen Bedingungen, welche die Vereinnahmung der unabhängigen polnischen Gewerkschaft von unterschiedlichen Seiten ermöglichten und unter denen deren Entstehung zu einem transnationalen Ereignis werden konnte. Auch wenn der Verfasser das Konzept von Anna Lowenhaupt Tsing (frictions) nicht benutzt, so macht die Studie doch ganz in deren Sinne plastisch klar, wie das Phänomen Solidarność nach vielen Seiten bedeutungsoffen war und wie sich unterschiedliche Auffassungen desselben übereinander schieben und Sichtweisen verändern konnten. Brier führt uns in diesem Sinne zu so unterschiedlichen Akteuren wie der französischen anti-totalitären Linken um Michel Foucault und den antikommunistischen US-amerikanischen Gewerkschaftern der American Federation of Labor and Congress for Industrial Organizations, aber immer wieder auch zu den politischen Ideen und Handlungskompetenzen der polnischen Bewegung. Die Schnittstelle der fraglichen Auffassungen bildeten Menschenrechte; ein Konzept, das laut Brier keineswegs konstitutiv für die Entstehung der Solidarność war, umso mehr aber für die Rezeption und den Effekt, mit welchem die Bewegung auf die internationale politische Bühne traf.
Die ersten drei Kapitel widmen sich der Dissidentenbewegung in Polen, dem Verhältnis von Dissidenz und Menschenrechten und dem Verhältnis von Entspannungspolitik, Kaltem Krieg und Solidarność. Kapitel 4 (The End of the Ideological Age: Human Rights and Ostpolitik), 5 (Solidarity, Human Rights, and Anti-Totalitarianism: US Labor, Neoconservatism, and Human Rights) und 6 (The "Bedrock of Human Rights" in France) bilden einen ersten großen Themenblock, welcher der These eines "Helsinki-Effekts" energisch widerspricht und stattdessen deutlich macht, wie die unterschiedlichen politischen Akteure die Ereignisse zu Hause und international ins Bild setzten. Menschenrechte, obgleich normativ, seien historisch gesehen ein offenes Konzept, wie der Verfasser betont. Im Kontext des Kalten Kriegs stellte sich zunächst die Frage, unter welchen Vorzeichen sie im Sinne der Détente à la Willy Brandt oder im Sinne des Anti-Kommunismus à la Ronald Reagan gelesen wurden. War Solidarność ein Hoffnungszeichen dafür, dass sich die sozialistischen Gesellschaften aus sich heraus reformieren oder gar eine andere politische Verfasstheit geben konnten, oder war die Unterdrückung der Bewegung ein Zeichen dafür, dass die in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit manifestierte Annäherungspolitik bereits gescheitert war? Brier zeigt, aufgrund welcher Konstellationen Solidarität mit Solidarność auf (fast) dem ganzen politischen Spektrum zum Referenzrahmen werden konnte.
Die Kapitel 7 (Letters from Prison: The Prisoner of Conscience and the Symbolic Politics of Human Rights), 8 (Lech Wałęsa, the Symbolism of the Nobel Peace Prize, and Global Human Rights Culture), 9 (General Pinochecki: Poland, Chile, and the Global Politics of Human Rights Culture) und 10 (Human Rights and the End of the Cold War) bilden den zweiten großen Themenblock. Dieser zeichnet nach, wie die unabhängige Gewerkschaft, die inhaftierten Aktivisten und insbesondere Lech Wałęsa zu Ikonen eines weltweiten Kampfes um Menschenrechte und insbesondere für das Recht auf freie Vereinigung und Pressefreiheit werden konnten (so wäre demnach auch die Verleihung des Friedensnobelpreises 1986 an Wałęsa zu verstehen). Der politische Gefangene, der Arbeiterführer und die Synchronisierung der Solidarität zwischen polnischen und chilenischen Aktivisten (Frauen kommen in diesem Kontext nicht vor) werden in dieser Perspektive ausbuchstabiert. Schließlich geht der Verfasser im Epilog konzise auf die weitere Genese moralpolitischer Interventionen bis hin zum Kosovoeinsatz ein und plädiert für eine Periodisierung der Geschichte der Menschenrechte (227).
In der Zusammenschau wirkt es teils etwas beliebig, welche Akteure Brier zum Beleg seiner These herangezogen hat, insbesondere wenn er in der Rezeption der Ostpolitik allein auf die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als Regierungspartei abhebt, im US-amerikanischen Bespiel auf die Regierung und die Gewerkschaften, im französischen Beispiel dagegen auf die moskautreuen Kommunisten und die neue Linke. In der Summe aber hat der sehr ambitionierte Erklärungsansatz, auf deutlich weniger als 300 Seiten abgehandelt, eine imponierende Wirkung. Brier hat eine große Menge Archivmaterial verschiedener Gewerkschafts-, National- und Geheimdienstarchive, gedruckte Quellen wie auch Zeitzeugeninterviews ausgewertet, aus dem er ein beeindruckendes Panorama arrangiert. Ein Kritikpunkt wäre, dass dabei die Rezeption des Forschungsstands zuweilen etwas kurz kommt. Hierzu nur zwei Beispiele: Der Verfasser spricht an mehreren Stellen vom mimicking der Dissidenten (55, 109), ohne zu erklären, was er damit meint, und ohne den berühmten Aufsatz von Sergej Oushakine auch nur bibliografisch zu erfassen, geschweige denn auszuwerten. [1] Seine Ausführungen zu Vaclav Havels Idee der Lüge als Basis des Totalitarismus und der Wahrheit als Pforte zu einer neuen Form der Gemeinschaft (61) kommen ohne Hinweise auf die kontrovers geführte historiografische Rezeption dazu aus. [2] Das Buch ist, wie es sich für den angloamerikanischen Buchmarkt gehört, eingängig geschrieben, aber aufgrund der Fülle der Fakten und auch der Komplexität der in ihrer Referenzialität vorgestellten Ideen nicht immer ganz leicht zu lesen. Man möchte das Buch sowohl Politiker:innen als auch Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen sowie Masterstudierenden der Geschichte auf den Tisch legen und hoffen, dass sie die Dichte der Darstellung nicht schreckt. Die zusammengetragenen Einsichten ergeben in der vorgestellten Perspektivierung ein offenes und vielschichtiges Bild der Genese moralgeleiteter politischer Interaktionen und Interventionen. Wenn man sich an den Gedanken der Offenheit moralgeleiteter Politik gewöhnt hat, ergibt sich ein guter Ausgangspunkt für weitere Historisierungen und intelligent geführte Debatten.
Anmerkungen:
[1] Serguei Alex Oushakine: The Terrifying Mimicry of Samizdat, in: Public Culture 13, 2 (2001), 191-214.
[2] Zum Beispiel, Muriel Blaive: The Danger of Over-Interpreting Dissident Writing in the West. Communist Terror in Czechoslovakia, 1948-1968, in: Friederike Kind-Kovács / Jessie Labov (eds.): Samizdat, Tamizdat & Beyond. Transnational Media during and after Socialism, New York 2013, 137-155; Paulina Bren: The Greengrocer and His TV. The Culture of Communism after the 1968 Prague Spring, Ithaca 2010; Pavel Kolář: Der Poststalinismus. Ideologie und Utopie einer Epoche, Köln 2016, 41-51.
Natali Stegmann