Rezension über:

Beatriz Colomina / Ignacio G. Galán / Evangelos Kotsioris u.a. (eds.): Radical Pedagogies, Cambridge, Mass.: MIT Press 2022, 392 S., zahl. Abb., ISBN 978-0-262-54338-5, USD 59,95
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Rezension von:
Dasol Lee / Katharina Stolz / Christian Vöhringer
Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Dasol Lee / Katharina Stolz / Christian Vöhringer: Rezension von: Beatriz Colomina / Ignacio G. Galán / Evangelos Kotsioris u.a. (eds.): Radical Pedagogies, Cambridge, Mass.: MIT Press 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 5 [15.05.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/05/38347.html


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Beatriz Colomina / Ignacio G. Galán / Evangelos Kotsioris u.a. (eds.): Radical Pedagogies

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Radical Pedagogies ist ein mehr als hundert Einzelbeiträge umfassender Sammelband über alternative Architekturausbildungspraktiken, mehrheitlich der 1960er und 1970er Jahre von allen Kontinenten. Einen Untertitel, der dem Publikum diesen Gegenstandsbezug und seine mehrfache Einschränkung des Zweiwort-Titels erläutert hätte, gibt es nicht und interessanterweise formulieren von 14 Überschriften nur zwei, City as site und Schooled by the Building, das Thema annähernd konkret aus. RADICAL PEDAGOGIES, gesetzt in übergroßen serifenlosen Majuskeln über zwei Seiten, installiert sich insofern selbst radikal, aber wenig vermittelnd. Verständlich wird dies vor dem historischen Hintergrund des zehnjährigen Lehr- und Forschungsunternehmens der Herausgebenden, durch welches Mitforscher:innen gewonnen und reichhaltiges Material erschlossen wurde:

Drei Ausstellungen, sechs Publikationen und viele Seminare später liegt nun von insgesamt 116 Autor:innen ein reich bebildertes Handbuch vor. Es wird durch thematische, zeitliche und räumliche Inhaltsverzeichnisse und Sach- und Personenindex erschlossen sinnvolle Erschließungsmittel, denn die Fußnotenarbeit und Verweise auf Archive fallen uneinheitlich aus. Alle Beteiligten und ihr Publikum kannten sich also bereits, neu Hinzukommenden wird die Projektgeschichte seit 2010 im Abspann, Acknowledgments, berichtet. "Lastly, (...), this book is meant to be a beginning rather than an end". (407) [1]

Schon die Einleitung (11-20) spricht den unauflösbaren Widerspruch an, dass Radikalität in Experiment und Performance einen antischulischen Impuls enthält, also nicht eigentlich auf Schulbildung zielen kann: "'Radical pedagogy' might even be an oxymoron". (12) Pädagogiken ähneln hier neuen Suchstrategien, beabsichtigen Verunsicherung, verwenden bislang unbekannte Technologien, wagen sich in andere Territorien, suchen neue Verbündete und gehen last not least in Opposition zu herrschenden Architekturpraktiken und ihren Leitsternen. Dass dies nicht konfliktfrei zu haben war, dokumentiert die öffentliche Diskussion von Studierenden mit Giancarlo De Carlo bei der Triennale di Milano, Mai 1968. (Foto: 13)

Über die Lehre am Black Mountain College (BMC) schreibt im Kapitel An interdisciplinary 'galaxy of talent' Eva Díaz (52). Es bestand von 1933 bis 1957 und war ein Sammelbecken unterschiedlicher herausragender Persönlichkeiten und Lehrmethoden, wobei oft auf die Lehre am Bauhaus hingewiesen wurde. Dagegen blieben die Wirkungen des BMC auf andere Architekturschulen nach seiner Schließung 1957 bis zur vorliegenden Publikation weithin unbeachtet. Hervorzuheben ist Richard Buckminster Fuller, der bis zur Schließung dort unterrichtete und sich bereits ein Jahr später 1958 mit Frei Otto inhaltlich austauschte, als dieser Gastprofessor an der Washington University in St. Louis war. Die Ideen des BMC nahm Fuller mit in die Southern Illinois University, das im Kapitel Parasitic pedagogy: the Buckminster Fuller teaching machine (219f.) von Mark Wigley besprochen wird. Sie flossen auch in Ottos Zehlendorfer Entwicklungsstätte und in das Institut für Leichtbau (IL) in Stuttgart ein, wo RBF einige Jahre später eingeladen war.

Das IL wird im Kapitel A spinner in his web von Daniela Fabricius besprochen (318-322). Die Interdisziplinarität und Experimentierfreude Frei Ottos machte aus dem IL, heute ILEK, ein herausragendes Kreativzentren für Architekturforschung. Fabricius weist auf die Zusammenarbeit zwischen Otto und Fuller hin, was beispielhaft als nur einer von vielen Fäden genannt sei, welche sich zwischen unterschiedlichen Kapiteln entspinnen. Die Verflechtungen durch Kolloquien, Gastprofessuren, Workshops, Hochschul- und Institutsgründungen können durch lexikonartige Einträge nicht dargestellt werden. Gelegentlich wird das "Starsystem" vergangener Tage fortgesetzt, z.B. wenn Charles und Ray Eames einerseits die Autor:innenschaft für Lehre in Georgia, Kalifornien und Indien zugesprochen bekommen, diese zugleich aber als von Architektur unabhängige Medienerziehung auch über Weltausstellungen und als Teil US-amerikanischer Kulturpolitik kommunizierten.

Lukas Stanek schreibt, aufbauend auf seine Dissertation über Architecture in Global Socialism 2020, über Architekturfakultäten in Nigeria, Zaria, und Ghana, Kumasi. Dort wurde in den frühen 1960er Jahren nach der Unabhängigkeit von Großbritannien angelehnt an Regeln des RIBA, Royal Inst. for British Architecture, und der AA, Architectural Association, London, ausgebildet und akkreditiert. In Ghana führte die Orientierung an der AA und insbesondere dessen Tropical architecture Program schon früh zu einer lokalangepassten Planungs- und Entwurfspraxis. Dazu wurden Lehrinhalte im Austausch mit Gastdozent:innen aus vielen Ländern beider Blöcke entwickelt (29f.; 366-369). Diese radikal afrikanische Praxis strahlte um 1968 auch auf Nigeria aus (30). [2]

Umstritten wird bleiben, ob "basic design" in Anlehnung an die Vorkurse am Bauhaus zur Dekolonisierung beitragen konnte, oder den universellen Anspruch kultureller und wirtschaftlicher Hegemonie Europas aufrechterhielt. Die einwöchigen Workshops für teilnehmende ohne Vorkenntnisse führten zu Gruppen-Improvisationen, wie Ayala Levin über Julian Beinart und Ulli Beier schreibt (68-71), welche an verschiedenen Orten in Afrika tätig waren. Das Bauhaus-Paradigma vom "Verlernen" tradierter Prägungen und Standards wendet sich bekanntlich auch gegen eine vorherrschende Bauhaus-Rezeption.

Nur vier Beiträge aus über 100 widmen sich Ostasien, untergebracht in verschiedenen Kapiteln. In der Reihenfolge im Buch schreibt Ruo Jia zuerst zur Architekturschule des Institute of Technology in Nanjing, wo in den 1980er Jahren eine radikale Öffnung für westliche Diskurse erfolgte (150). Bekanntlich fand diese mit der Niederschlagung der Studentenproteste 1989 ein brutales Ende. Die zwei japanischen Beispiele, beide von der Universität Tokyo, verhalten sich radikal antagonistisch zueinander, auf mehreren Ebenen: während Hiroshi Hara mit Studierenden ethnographische Dorfstudien in 40 Ländern betrieb (179-182), lehrte Kenzo Tange technologische Grandiosität und technokratische Kontrolle für neue Metropolen, vgl. seine Beiträge zur Expo 70 in Osaka (355-357). Zurecht sind beide in entgegengesetzten Kapiteln behandelt, Beyond the Classroom und Retooling the Practice. Das Hara-Lab hätte auch gut zu Intersecting the Global and the Local gepasst, war der Anspruch doch eine Berücksichtigung sozialer Bedürfnisse, wie in den erforschten Dorfarchitekturen beobachtet, in modernen Raumplanungen (182). Von kurzer Dauer war Lim Chong Keats Lehre am Singapur Polytechnikum (1959-1961), aber der Anspruch einer integration of universal and regional (303) war hoch. Sie sollte sich in seiner Büropartnerschaft Malayan Architects Co-Partnership, MAC, fortsetzen (304).

Man darf wohl sagen, dass hier ein erster Anfang gemacht wurde, was postkoloniale Umwälzungen in den Architekturlehren Ostasiens bedeutet.

Ein wichtiges Feld jedoch, das in zukünftigen Diskussionen unbedingt stärker zu beachten ist, ist die Pädagogik an und von Frauenuniversitäten, die zwar hierzulande eine Ausnahme darstellen, im internationalen Vergleich jedoch oft eine lange Tradition aufweisen. Die japanische Architektin und Pritzker-Preisträgerin Kazuyo Sejima beispielweise studierte an der bereits 1901 gegründeten privaten Frauenuniversität Nihon Joshi Daigaku. Vor ihr absolvierten bereits Architektinnen wie Kimiko Suzuki (1929-1992) und Hatsue Yamada (* 1930) ihre Ausbildung an der bis heute renommierten Universität. Auch in den USA und Kanada sind Frauenuniversitäten alltäglich. Das 1889 gegründete Barnard College der Columbia University beispielsweise brachte Architektinnen wie Norma Merrick Sklarek (1926-2012) hervor, die erste Afro-Amerikanische Frau, die in Amerika eine Architekturlizenz erhielt. Ihr folgte unter anderen die Architektin Pascale Sablan (* 1983), die sich mit der Organisation "Noma" (National Organisation of Minority Architects) für eine Gleichstellung in der Architektur engagiert.

Nur ausschnitthaft konnten hier die vorgetragenen Dimensionen von radikaler Architekturforschung und -lehre benannt werden. Oft lag die radikale Unterrichtsform in ihrem experimentellen oder wissenschaftlichen Charakter, wobei regelmäßig andere Disziplinen, neue Medien und Technologien angeeignet wurden. Noch öfter scheinen kurzzeitige, aber folgenreiche persönliche Begegnungen auf. Sehr hilfreich sind hier für kommende Forschungen die Register und unterschiedlichen Inhaltsverzeichnisse. Wünschenswert wäre für eine Fortsetzung ein offenes Datenbankformat, durch das die bisweilen unlesbar kleinen Abbildungen von Dokumenten nutzbar und die cluster wiederkehrender Bezugnahmen durchsuchbar und fortsetzbar würden, um nur einige Vorzüge zu nennen.


Anmerkungen:

[1] Ohne allerdings auf das verwandte Projekt von Beatriz Colomina über "radikale Architektur in kleinen Zeitschriften", Clip, stamp, fold, einzugehen, das 2010 in Barcelona erschien und bereits ähnlich kollaborativ, global & antihegemonial ausgerichtet war.

[2] Lukas Stanek: Architecture in Global Socialism. Europe, West Africa, and the Middle East in the Cold War, Princeton NJ 2020.

Dasol Lee / Katharina Stolz / Christian Vöhringer