Seth Bernstein: Return to the Motherland. Displaced Soviets in World War II and the Cold War (= Battlegrounds: Cornell Studies in Military History), Ithaca / London: Cornell University Press 2023, XVII + 292 S., 21 s/w-Abb., ISBN 978-1-5017-6739-5, USD 46,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Elena Rozhdestvenskaya / Victoria Semenova / Irina Tartakovskaya et al. (eds.): Collective Memories in War, London / New York: Routledge 2016
Mark Edele: Stalinism at War. The Soviet Union in World War II, London: Bloomsbury 2021
Beate Fieseler / Roger Markwick (ed.): Sovetskij tyl 1941-1945: povsednevnaja zizn' v gody vojny, Moskva: ROSSPEN 2019
"Niemand ist vergessen, nichts ist vergessen", schrieb die sowjetische Dichterin und Militärjournalistin Olga Bergholz im Jahr 1959. Ihre Worte haben sich zum Inbegriff der Erinnerung an die Opfer der Blockade von Leningrad und im weiteren Sinne an die Opfer des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR entwickelt. Später wurde Bergholz' Poesie auch mit einer versteckten Trauerklage für die Opfer von stalinistischem Terror in Verbindung gebracht. Diese Parole wird von Seth Bernstein in seiner Monografie aufgegriffen. Seine Forschung zeigt, dass Bergholz' Aussage durch die Untersuchung der Geschichte der Rückkehr sowjetischer Displaced Persons (DP) in ihre Heimat in folgende Fragen umformuliert werden kann: "Wer wird vergessen? Wem kann vergeben werden?" (235) Die Hauptakteure seiner Forschung sind sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden und nach Kriegsende (meist freiwillig) in ihre Heimat zurückgeführt wurden. Bernstein zählt auch jene Menschen zu dieser Gruppe, die in der Frühzeit des Kalten Kriegs in die UdSSR zurückkehrten. Chronologisch betrachtet, umfasst die Studie den Zeitraum von den frühen 1940er Jahren bis etwa Mitte der 1960er Jahre.
Das Hauptziel des Autors besteht darin, eine Sozialgeschichte der DPs sowie eine Geschichte der Bindung zwischen dem sowjetischen Staat und der Gesellschaft zu schreiben. Die ersten vier Kapitel befassen sich mit der Kriegszeit und beschreiben die Lebensbedingungen und Überlebensstrategien der sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im nationalsozialistischen Deutschland, ihren Alltag in Stadt und Land, die Rolle und die Formen des Widerstands und der Kollaboration sowjetischer Kriegsgefangener sowie das Verhältnis von Männern und Frauen. Ein besonderes Augenmerk legt er auf die Überlebensstrategien der sowjetischen Jüdinnen und Juden. Das fünfte Kapitel bildet einen Übergang von Kriegs- zu Friedenszeiten und widmet sich der Entscheidung der sowjetischen Bürgerinnen und Bürger, in ihre Heimat zurückzukehren - oder nicht. Bernstein betont, dass von den sieben Millionen Deportierten etwa 450.000 Menschen (vor allem aus den nach 1939 der UdSSR angegliederten Gebieten) nicht in ihre Heimat zurückkehren wollten. Gleichzeitig kehrten 5,4 Millionen Menschen nach dem Krieg heim. Die Kapitel 6 bis 8 beschreiben den Rückkehrprozess sowjetischer Bürgerinnen und Bürger in den ersten Nachkriegsjahren, ihre Anpassung in der Heimat und ihre Verwendung durch den Staat als billige Ressource zur Wiederherstellung der Landeswirtschaft. Viele DPs verheimlichten ihre Kollaboration mit den Nazis, einige versuchten sogar, sich als Helden des Widerstands gegen das NS-Regime darzustellen. Trotzdem standen sie vor sowjetischem Gericht nach ihrer Heimrückkehr. Der Autor aber widerlegt die weit verbreitete Annahme, dass alle Zurückgekehrten als Vaterlandsverräter in Gefängnissen oder Straflagern gelandet seien. Die letzten beiden Kapitel untersuchen die Regierungspolitik gegenüber Spätrückkehrern während des Kalten Kriegs. Das Buch veranschaulicht und bestätigt ausführlich die These, dass die Rückkehr der Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger in den Staat eine "politische Wiedereingliederung nach Jahren im Ausland" (142) darstellte.
Bernstein verwendet in seinem Werk eine breite Palette an Quellen, die in drei Gruppen eingeteilt werden können: Erstens umfassen sie über hundert mündliche Interviews, die in den 2000er Jahren mit ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern geführt wurden. Diese Interviews bieten eine herausragende Möglichkeit, eine Sozialgeschichte des Alltagslebens der sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Deutschland zu verfassen. Eine der Hauptgrenzen dieser Quelle ist, so der Autor, die unzureichende Behandlung bestimmter Themen wie sexuelle Gewalt und Prostitution. Zweitens handelt es sich um Unterlagen aus dem Büro des Kommissars des Ministerrats der UdSSR für Rückführungsangelegenheiten, die im Staatsarchiv der Russischen Föderation aufbewahrt werden. Basierend auf interner Korrespondenz wird die Geschichte des Einsatzes der Mitarbeiter im außenpolitischen Bereich rekonstruiert, um die Rückkehr sowjetischer Bürgerinnen und Bürger in ihre Heimat zu ermöglichen. Leider enthalten die Referenzen nur Fonds- und Fallnummern ohne deren Titel. Daher ist nicht klar, welche Art von Quellen der Autor in seiner Arbeit verwendet. Drittens handelt es sich um Akten aus nicht öffentlichen Prozessen gegen zurückgekehrte sowjetische Bürgerinnen und Bürger, denen Hochverrat vorgeworfen wurde. Diese Quellen wurden in den Staatssicherheitsarchiven der Ukraine und Georgiens vor Kurzem freigegeben. In digitaler Form liegen sie dem Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten in Washington vor. Am Ende des Buches befindet sich eine "Anmerkung zu Quellen", die nur aus zwei Seiten besteht und leider nicht viele Fragen im Zusammenhang mit der Entstehung dieser Quellen und den Problemen ihrer wissenschaftlichen Verwendung beantwortet.
Nahezu jedes Kapitel beinhaltet visuelle Quellen wie Propagandaplakate und Fotografien der Protagonistinnen und Protagonisten (insgesamt 19 Abbildungen). Zusätzlich werden einige Spielfilme erwähnt, darunter "Person [Chelovek] Nr. 217," 1944, "Der Fall von Berlin [Padenije Berlina]," 1950 und "Menschen und Tiere" [Liudi i zveri], 1962. Sie dienen jedoch lediglich als Anschauungsmaterial und nicht als eigenständige Quellen, die eine ausführliche Diskussion des untersuchten Themas ermöglichen könnten. Weiterhin gibt es am Anfang des Buches eine Liste der Archive, in denen der Autor recherchiert hat, sowie ein Abkürzungsverzeichnis. Darin enthalten sind auch kurze Informationen zu den 16 im Buch am häufigsten vorkommenden Protagonistinnen und Protagonisten. Der Ansatz, die Geschichte der Rückkehr der sowjetischen DPs anhand der Biografien einzelner Menschen zu rekonstruieren, ist im Kontext der Sozialgeschichtsschreibung "von unten" eine vielversprechende Aufgabe. Allerdings ist es fraglich, inwiefern die 16 verwendeten Biografien für eine Verallgemeinerung geeignet sind.
Eine der Hauptabsichten des Autors liegt darin, Werturteile zu vermeiden und die Geschichte der DPs im Kontext der sich abzeichnenden Konfrontation mit dem kapitalistischen Westen in die Entwicklung des Sowjetstaates nach dem Zweiten Weltkrieg einzuordnen. Die Ambivalenz der sowjetischen Politik sowie das Nachkriegschaos beeinflussten die Haltung lokaler Beamter gegenüber den zurückgekehrten DPs. Bernstein belegt mittels Materialien nicht öffentlicher Prozesse in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik sowie verfügbarer Statistiken, dass die sowjetische Politik der Überprüfung und Wiedereingliederung Vorrang vor Repression hatte. Er zeigt, dass nur 6,5 Prozent aller Rückkehrer in den sowjetisch besetzten Gebieten und an der Grenze festgehalten wurden und etwa 1,5 Prozent der ukrainischen Rückkehrer verhaftet wurden. Diese Erkenntnis ist eine bedeutende Schlussfolgerung des Buches, die die hartnäckige Meinung widerlegt, alle zurückgekehrten Personen seien aufgrund der repressiven Politik der UdSSR im Gefängnis oder in Sibirien gelandet. Trotzdem bleibt Bernstein eine Geisel seiner Quellen: Die Prozessmaterialien illustrieren eher Ausnahmen oder Abweichungen von der Norm. Die meisten Rückkehrer kehrten in ihr normales Leben zurück und versuchten, ihre Kriegserfahrungen zu verdrängen. In der Regel verfassten sie keine Memoiren oder Tagebücher über ihr Leben in der UdSSR nach dem Krieg, sondern bemühten sich, sich wieder in die sowjetische Gesellschaft zu integrieren und wie alle anderen zu sein.
Irina Rebrova