Phillipp McLean: Mündigkeit in der historischen Bildung. Eine Untersuchung über Gründe, sich kritisch mit Geschichte zu befassen (= Geschichtsdidaktik Theoretisch; Bd. 4), Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 464 S., ISBN 978-3-7344-1558-6, EUR 69,00
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Mündigkeit ist wohl eines der unbestrittensten pädagogischen Ziele unserer Zeit. Sich seines eigenen Verstandes bedienen, selbständig urteilen und eigenverantwortlich handeln zu können ist nicht nur vor dem Hintergrund rechtlicher und demokratiepolitischer Anforderungen unabdingbar, sondern auch Voraussetzung für eine intellektuell souveräne Lebensführung. Der Geschichtsunterricht will hier seinen Beitrag leisten und Jugendliche auf dem Weg zur Mündigkeit voranbringen - doch welche Vorstellungen von Mündigkeit herrschen hier überhaupt vor, zumal die theoretischen und normativen Diskurse über historische Bildungsziele wohl vor allem implizit geführt werden?
Dieser Frage hat Philipp McLean bereits in mehreren Diskussionsbeiträgen nachgespürt. Seine Dissertation, die hier in publizierter Form vorliegt, will der Sache nun wirklich auf den Grund gehen. Sie zeichnet sich durch eine geschliffene Sprache, eine beeindruckende analytische Schärfe und einen umfangreichen Anmerkungsapparat aus, der von intensiver Auseinandersetzung mit relevanten Theoriesträngen zeugt. Allerdings ließe sich monieren, dass vieles verbal komplexer dargestellt wird als notwendig und sich inhaltlich nicht wenige Redundanzen ergeben.
Der Band beginnt mit einer rechts- und ideengeschichtlichen Einordnung, wobei der Weg vom individuellen zum universellen Mündigkeitsverständnis, von der körperlichen zur geistigen Durchsetzungsfähigkeit, vom juristischen zum philosophisch-pädagogischen Konzept anschaulich nachgezeichnet wird. Im modernen Mündigkeitsdiskurs rücken die gesellschaftlichen Bedingungen in den Mittelpunkt. Hier zeichnet sich ein Spannungsfeld zwischen zwei weltanschaulichen Polen ab, von denen der eine die intellektuellen Selbstbefreiungsmöglichkeiten des Individuums optimistisch einschätzt, der andere den vorherigen Abbau gesellschaftlicher Barrieren betont - eine Gegensatzpaarung, die auch den geschichtsdidaktischen Mündigkeitsdiskurs zwischen konservativem, wissenschaftsorientiertem und kritisch-emanzipatorischem Lagern prägen wird. Der Autor selbst ordnet sich hier der "holistischen" (47) Sichtweise zu, nach der Mündigkeit die Bewusstmachung und Transformation unfreier gesellschaftlicher Verhältnisse voraussetzt.
Im anschließenden empirischen Teil wird der aktuelle historische Mündigkeitsdiskurs mittels einer wissenssoziologischen Diskursanalyse auf seine Argumentationsstrukturen hin abgeklopft. Hierfür wird exemplarisch die öffentliche Debatte rund um die Reform des hessischen Kerncurriculums 2012 herangezogen. Das methodische Vorgehen bei der Bearbeitung der relevanten Dokumente - Formulierung deduktiver Analysekategorien über Schlüsselbegriffe wie "Fortschritt", Inhaltsanalysen zur Identifikation von Zielvorstellungen, Concept-Mapping-Analysen zur Erschließung von Relationen, Sequenzanalysen zur Rekonstruktion argumentativer Deutungsmuster - wird ausführlich erläutert und nachvollziehbar begründet. In der Auswertung werden drei Diskursfelder unterschieden (öffentlich, politisch, wissenschaftlich) und es ist spannend zu sehen, inwiefern die Positionierungen in mehreren Spannungsfeldern (z.B. Offenheit/Geschlossenheit, Affirmation/Negation) teilweise divergieren. Letztlich ergibt sich kein ganz klares Bild hinsichtlich der normativen Ziele historischer Bildung, insgesamt werden aber individuelle Vernunftmöglichkeiten und eine entsprechende Eigenverantwortung betont (263). Emanzipatorische Ansprüche finden sich dagegen kaum.
Letzteres erklärt der Autor damit, dass kritisch-emanzipatorische Anliegen im Diskurs der letzten Jahrzehnte delegitimiert, "an den Rand der geschichtsdidaktischen Diskussion gedrängt" (241) und teilweise vom Geschichtsbewusstseinskonzept absorbiert worden seien, so dass die Angelegenheit "nicht zu Ende diskutiert" (242) werden konnte. Im folgenden theoretischen Teil werden daher Begründungszusammenhänge eines emanzipatorischen Mündigkeitsverständnisses skizziert, das auf die souveräne Aneignung von Geschichtskultur zielt und dabei historische Bildung deutlich stärker als Gesellschaftskritik versteht. Die inneren Widersprüche des gegebenen Mündigkeitsbegriffs werden entlang der bereits genannten Schlüsselbegriffe kritisiert und selbige unter emanzipatorischen Vorzeichen gefüllt. Wie schon in der Vergangenheit steht auch hier die Kritische Theorie Pate, nun freilich in einer zeitgemäßen Ausformung u.a. nach Rahel Jaeggi und Robin Celikates. Um die abstrakten Ausführungen etwas konkreter zu fassen, werden abschließend zwei Operationalisierungsperspektiven angeboten, die allerdings ein wenig vage bleiben.
Überzeugt der Autor mit seinem Anliegen, den Mündigkeitsbegriff emanzipatorisch aufzuladen? Nur, wenn man sich an der unvermeidlichen perspektivischen Verengung nicht stört. Mündigkeit wird hier dezidiert politisch gefasst, das zugrunde gelegte Gesellschaftsbild ist negativ verzerrt und der Ideologiebegriff doch allzu deutlich dem eigenen Weltbild angepasst; auch bleibt die Anschlussfähigkeit der Kritischen Theorie außerhalb akademischer Kreise fraglich, zumal ihre identitätspolitischen Ausblühungen zuletzt doch eher unrühmlich ausgefallen sind. Ohnehin dürften viele Ziele emanzipatorischer Didaktik - etwa die historische Reflexion von Identität, Herrschaftsstrukturen, gesellschaftlichen Umbrüchen oder individueller agency - im gegenwärtigen Paradigma aufgegangen sein, so wie in der politischen Bildung der Gegensatz zwischen emanzipatorischem und affirmativem Mündigkeitsverständnis durch den Beutelsbacher Konsens aufgelöst werden konnte. [1] Andererseits kann Emanzipation, verstanden als "aktiv zu befördernde Hoffnung" [2], die zukunftsgewandte Seite historischer Orientierung stärker in den Blick rücken und im Sinne Negts helfen, historisches mit utopischem Denken zusammenzubringen [3] - eine Fähigkeit, die gerade heute wichtig erscheint.
In jedem Fall bietet der vorliegende Band einen umfassenden Überblick über den historischen Mündigkeitsdiskurs und ergänzt diesen zugleich um Positionen einer kenntnisreich und zeitgemäß fundierten emanzipatorischen Pädagogik. Damit gibt er nützliche Impulse für eine Debatte, die wohl nie abgeschlossen sein wird.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Michael May / Marc Partetzke: Einführung in die Politikdidaktik, Band 1, Frankfurt/Main 2023, 38.
[2] Klaus Bergmann / Hans-Jürgen Pandel: Geschichte und Zukunft. Didaktische Reflexionen über veröffentlichtes Bewußtsein, Frankfurt/Main 1975, 112.
[3] Vgl. Oskar Negt: Gesellschaftliche Schlüsselqualifikaktionen. Sechs Kompetenzen zur Gesellschaftsveränderung, in: Widerspruch: Beiträge zu sozialistischer Politik, Heft 33 (1997), 89-102, 100f.
Heinrich Ammerer