Rick Tazelaar: Hüter des Freistaats. Das Führungspersonal der Bayerischen Staatskanzlei zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegsdemokratie (= Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit in Bayern), Berlin: De Gruyter 2023, XII + 419 S., 1 Farb-, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-127729-5, EUR 59,95
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"Hüter des Freistaats" - so lautet der Haupttitel der von Rick Tazelaar vorgelegten Dissertation, die im Rahmen des im Institut für Zeitgeschichte angesiedelten Projekts "Demokratische Kultur und NS-Vergangenheit" entstanden ist. Gendern ist hier wahrlich nicht nötig. Die Bewahrer bayerischer Tradition und Eigenstaatlichkeit, welche dem Freistaat nach Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Stempel aufdrückten, waren in der Tat ausschließlich Männer. Das die Jahrzehnte von 1945 bis Ende der 60er Jahre umfassende Werk zum Aufbau und zur Organisationsstruktur wie zur Kultur der Bayerischen Staatskanzlei als Schaltzentrale bayerischer Politik und strategisches Zentrum bayerischer Eigenstaatlichkeit löst jedoch die Epochengrenze 1945 nachhaltig auf, indem es Biographien zum Herzstück der Konzeption macht. Lebensgeschichten überschreiten mühelos Epochengrenzen, was sie im Hinblick auf Kontinuitäten auf der Folie von Erfahrungszusammenhängen so wertvoll für die historische Forschung macht. Die Biografien jener Männer, welche die Bühne bayerischer Politik nach 1945 bespielten, enthalten scharfe Brüche. Viele sind um das Jahr 1890 geboren, am Ende der Regierungszeit Otto von Bismarcks, im Kaiserreich sozialisiert worden, haben die Kulminationskatastrophe des Ersten Weltkriegs erlebt, die Umwälzungen an dessen Ende und sie sind durch den "doppelten Weimar Komplex" (92), nämlich durch die Revolution von 1918/19 sowie die zentralistische Verfassung der Weimarer Republik traumatisiert und als dessen Konsequenz politisiert worden. Es folgten die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, der Zweite Weltkrieg, das Menschheitsverbrechen der Vernichtung des europäischen Judentums und der Zusammenbruch.
Tazelaar gelingt darüber hinaus mit der Analyse einzelner Memoiren wie der des ersten bayerischen Ministerpräsidenten Fritz Schäffer das Herausschälen des Selbstverständnisses dieser Generation von Politikern und Ministerialbeamten. Retrospektive Selbstinszenierungen werden dekonstruiert und dahinterliegende partei- und staatspolitische Strategien vor und nach der Nationalsozialistischen Herrschaft entblößt. Auch wenn es im Quellen- und Literaturverzeichnis nicht transparent wird, ordnet sich die Studie in das Feld von Generationenforschung und Mentalitätsgeschichte ein. Es fehlen zwar Namen wie Karl Mannheim, der Vater der Generationentheorie, Ulrike Jureit [1] oder Historiker der Annales-Schule, aber dennoch wird evident, dass der gemeinsame Erfahrungs- und Sozialisationshintergrund dieser Generation offensichtlich "lebenslang intensiv vertretene moralische, religiöse und politische Überzeugungen" [2] generiert hat, welche die Klammer um den Wiederaufbau Bayerns nach 1945 und der Konzeption der bayerischen Staatskanzlei bilden.
Der Autor entfaltet auf dieser Grundlage die geniale Strategie von durch enge Netzwerke verbundenen männlichen Eliten zum Aufbau Bayerns nach 1945, in deren Zentrum auf der organisatorischen Seite die Bayerische Staatskanzlei als Machtapparat zur Unterstützung des Ministerpräsidenten und Zentrale bayerischer "Außenpolitik" stand und auf der ideologischen - quasi als Reaktion auf die Weimarer Erfahrung - die Eigenstaatlichkeit sowie ein progressiver Föderalismus. Die Perspektive ist so dynamisch wie es die Ereignisse und das Geschehen in jenen Jahren sind. Architekt und "graue Eminenz" in der Prinzregentenstraße war der langjährige Leiter der Staatskanzlei, Anton Pfeiffer. Tazelaar betrachtet die diplomatischen Beziehungen zur Militärregierung als essentiell für die Konzeption der Staatskanzlei in der Tradition des ehemaligen Ministeriums des Äussern. Pfeiffer war der Schnittpunkt alter potenter Netzwerke, die - ausgestattet mit außenpolitischer Erfahrung - auch durch gute Beziehungen zur amerikanischen Militärregierung auffallen. Dies ist entscheidend, da die Entnazifizierungspolitik des OMGB (Office of Military Government for Bavaria) die Handlungsspielräume der Regierung einengte, welche sich in einem komplexen Spannungsfeld unterschiedlicher Ansätze von Entnazifizierungsverfahren - individuell versus formal - befand. Letztlich gewannen formale Kriterien die Oberhand, ein Vorgehen, das im Ergebnis das Narrativ von der sauberen Verwaltung fütterte. Auf der operativen Ebene bedeutete dies, dass Männer wie der Ministerialbeamte Fritz Baer trotz ihrer beruflichen Tätigkeiten und ihrer Verstrickung in die NS-Verbrechen oder mindestens des Wissens über jene, ihre Karrieren ohne Unterbrechung in der Administration fortsetzen konnten. Fritz Baer, als Leiter der Devisenüberwachungsstelle 1941 zum Oberregierungsrat befördert, wurde im Spruchkammerverfahren als formal nicht belastet evaluiert und man findet ihn bereits 1946 als Hauptabteilungsleiter ausgerechnet im Bayerischen Landesamt für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung und am Ende desselben Jahres als Ministerialrat in der Bayerischen Staatskanzlei wieder. Von Hanns Seidel zum Amtsleiter berufen, übte er dieses Amt noch unter Alfons Goppel bis ins Jahr 1967 aus.
Freilich blieben diese Personalentscheidungen der Öffentlichkeit nicht verborgen; die NS-Belastung von leitenden Beamten und Politikern wurde vielfach instrumentalisiert und als politische Waffe eingesetzt. Das Kreuzen verschiedener Interessenslagen und Organisationen wie der mächtigen, die Entnazifizierung blockierenden katholischen Kirche, das nachlassende Engagement der amerikanischen Militärregierung im beginnenden Kalten Krieg, die rein männlichen katholisch-konservativen Studentenverbindungen und die effektiven Netzwerke der "Ehemaligen" ermöglichten die Kontinuität des bayerischen Berufsbeamtentums, an dessen Modernisierung und Demokratisierung kaum Interesse bestand. Unter dem Dach der stringenten Ausrichtung auf die Eigenstaatlichkeit Bayerns führte dies dazu, dass die Opfer des Nationalsozialismus, aber auch Frauen an den Rand, bis hin zur Unsichtbarkeit gedrängt wurden. Es ist großartig, dass der Autor die Genderperspektive mitaufgenommen und sich dem Nachlass der Diplomatin Margarethe Bitter gewidmet hat, die als einzige Frau der Führungsebene der Staatskanzlei angehörte. Lange vor der im Jahr 2000 verabschiedeten UN-Resolution 1325 und der Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit über die Stärkung der Teilhabe von Frauen an politischen Prozessen und Institutionen wirft der problematische Umgang mit Dr. Bitter ein Schlaglicht auf die Kultur toxischer Männlichkeit in der Staatskanzlei, welche der Entwicklung demokratischer Prozesse und einer Aufarbeitung der Vergangenheit im Wege stand.
Generationenwechsel gelten als Katalysator gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Studie markiert einen Meilenstein in der Erforschung der Nachkriegsgeschichte Bayerns, indem sie alte Themen aus neuer Perspektive und mit neuen Methoden betrachtet.
Anmerkungen:
[1] Karl Mannheim: "Das Problem der Generationen", in: Karl Mannheim: Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk. Herausgegeben von Kurt H. Wolff, Neuwied / Berlin 1964, 509-565, Ulrike Jureit: Generationenforschung, Göttingen 2006.
[2] Hartmut Radebold: Kriegsbeschädigte Kindheiten (1928-29 bis 1945-48). Kenntnis- und Forschungsstand, in: Hartmut Radebold (Hgg.): Kindheiten im II. Weltkrieg und ihre Folgen, Gießen 2004, 17-29, 21.
Susanne Greiter