Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgeschichte der Frühen Neuzeit (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2023, 1319 S., 36 Farb-, 83 s/w-Abb. und 35 Karten, ISBN 978-3-406-78344-9, EUR 48,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Uwe Schultz: Der König und sein Richter. Ludwig XVI. und Robespierre: Eine Doppelbiographie, München: C.H.Beck 2012
Arno Strohmeyer: Die Habsburger Reiche 1555-1740. Herrschaft - Gesellschaft - Politik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012
Stefan Thäle: Herrschertod und Herrscherwechsel. Kommunikative Strategien und medialer Wandel in der Grafschaft Lippe des 18. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2014
Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte, München: C.H.Beck 2015
Wolfgang Behringer / Hartmut Lehmann / Christian Pfister (Hgg.): Kulturelle Konsequenzen der "Kleinen Eiszeit". Cultural Consequences of the 'Little Ice Age', Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005
Wolfgang Behringer / Eric-Oliver Mader / Justus Nipperdey (Hgg.): Konversionen zum Katholizismus in der Frühen Neuzeit. Europäische und globale Perspektiven, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2019
Wolfgang Behringer verfolgt mit seiner Globalgeschichte, die allein schon durch die Vielfältigkeit der behandelten Themen beeindruckt, klare Ziele. Er möchte die Epoche der Frühen Neuzeit als Vorstufe der Gegenwart präsentieren und darin den Ursprung unseres Weltbildes und globaler Verflechtungen verorten. Seine Arbeitstechnik beschreibt er metaphorisch als das Setzen von Tupfen, die jeweils für sich stehen, aber aus der Distanz ein Gemälde ergeben (64). Entsprechend besteht sein Buch weitgehend aus kurzen Kapiteln von durchschnittlich etwa fünf Seiten Umfang, die jeweils eine Mikrogeschichte bieten. Die Auswahl der Themen ist, wie Behringer angibt, nur teilweise systematisch und durchaus auch subjektiv (65). Entsprechend sind seine Kapitel eher selten inhaltlich verbunden und oft durch zeitliche und räumliche Sprünge getrennt. Generell stehen keine abstrakten Konzepte oder Fragen im Zentrum, sondern Akteurinnen und Akteure. Durch sie möchte Behringer globale Ereignisse, Orte und Lebensläufe präsentieren, an denen er globale Strukturen und Themen konkretisiert. Das Buch ist also trotz seines Titels eigentlich nicht als eine Globalgeschichte, sondern als eine Sammlung von Geschichten aus der Frühen Neuzeit mit globaler Perspektive konzipiert - eine Sammlung, die überrascht, unterhält und ihrer Leserschaft Möglichkeiten für Vergleiche und Verknüpfungen bietet.
Der Hauptteil des Werkes - nach einer Darstellung der Ausgangslage, die ausführlich die Folgen der mongolischen Expansion behandelt - ist chronologisch geordnet. Drei Großkapitel decken je ein Jahrhundert ab, wobei das 16. den Schwerpunkt bildet und das 18. vergleichsweise kurz beschrieben ist. Es folgen ein Ausblick auf das Ende der Neuzeit und einige abschließende Überlegungen. Betrachtet man den Hauptteil des Werkes insgesamt, so fällt Folgendes auf:
Behringer legt einen Schwerpunkt auf Politikgeschichte. Viele Episoden sind Krisen, Reformen, Eroberungszügen und der Etablierung neuer Dynastien gewidmet. Der globale Bezug ist dabei nicht immer offensichtlich. Drei weitere Themenbereiche flankieren diesen Schwerpunkt: zum einen Wirtschaftsgeschichte mit Fokus auf Akteuren und mit Beatriz de Luna einer Akteurin, die ökonomische Verflechtungen zwischen Kontinenten und Kulturräumen herstellten. In diesen Bereich fallen gelungene Ausführungen zu globalen Diasporas und Handelsreisen. Zum anderen globale Klimageschichte, für die Behringer seine Forschungserfahrung anschaulich präsentiert; und zuletzt Wissensgeschichte. Letztere umfasst Fragen nach der Erweiterung des Wissens in unterschiedlichen Gesellschaften sowohl durch neue wissenschaftliche Methoden als auch durch interkulturelle Wissenstransfers. Gerade bei der Darstellung solcher Transfers und Rezeptionen gelingt Behringer eindrucksvoll der Bruch mit eurozentrischen Perspektiven.
Hinsichtlich der Wissensgeschichte ist bemerkenswert, dass Behringer dem klassischen Narrativ einer wissenschaftlichen Revolution verpflichtet bleibt, wenn es am Ende des Kapitels zum 16. Jahrhundert heißt, in Europa sei jetzt "die Wissenskultur der Neuzeit entstanden" (429). Auf kritische diesbezügliche Forschungen der letzten Jahrzehnte geht er erst später ein, nachdem er im 17. und 18. Jahrhundert weitere revolutionäre Wissensfortschritte in Europa verortet hat. Ebenfalls klassisch ist Behringers Ansatz, Wissensgeschichte als eine Geschichte großer Männer zu erzählen. Dies steht im Kontrast zu seiner Politikgeschichte, bei der er das Wirken vieler Herrscherinnen thematisiert.
Von Herrscherinnen abgesehen stehen Akteurinnen aber nur selten im Mittelpunkt. Ein Grund hierfür könnte sein, dass jede Globalgeschichte auf Vorarbeiten angewiesen ist und ältere Quelleneditionen und Gesamtdarstellungen Akteurinnen oft ausgeblendet haben. Behringer selbst thematisiert außerdem eher herausragende Individuen als Akteursgruppen. Somit ist für sein Buch nicht zentral, dass die historische Forschung gerade innerhalb von Gruppen immer wieder den erheblichen Einfluss von Akteurinnen nachgewiesen hat. Hierzu passt außerdem, dass er sich aufgrund seines programmatischen Verzichts auf abstrakte Themen über Geschlechterrollen im Allgemeinen gar nicht und über andere soziale Ordnungskonzepte historischer Gesellschaften nur selten äußert - selbst wenn sie für interkulturelle Begegnungen und Verflechtungen prägend waren. Ausnahmen hiervon sind seine Überlegungen zu Mechanismen der Ausgrenzung und Diskriminierung sowie zu kultureller Hybridisierung, die er in den Abschlusskapiteln zusammenführt. Dies ist für das Werk durchaus untypisch, denn Behringers Mikrogeschichten bleiben weitgehend isoliert.
Ins Auge fällt, dass der Raum Nordamerika eine vergleichsweise geringe Rolle spielt. Auch wenn er oft kurz erwähnt wird, sind hier nur wenige Episoden verortet, die zudem missverständliche Formulierungen wie eine Charakterisierung der englischen Kolonien als "Inseln in der Wildnis" (794) und sachliche Fehler beispielsweise zur Lokalisierung indigener Nationen aufweisen. Auch auf den Karten bleibt dieser Kontinent entweder leer oder erscheint als kolonial durchdrungen. Dies ist angesichts der eigenständigen Politik indigener Nationen bis ins späte 18. Jahrhundert fragwürdig.
Behringer verweist nur sehr unregelmäßig auf Quellenlage und Forschungsstand, was aber für ein Überblickswerk normal ist. Auch wenn er Überlieferungen stellenweise kritisch abwägt, präsentiert er in der großen Mehrheit seiner Kapitel eine singuläre Ereignisrekonstruktion mit Wahrheitsanspruch. Bei Forschungsdebatten wiederum thematisiert Behringer bevorzugt neue Befunde der Klimageschichte oder positioniert sich kritisch gegen bestimmte postkoloniale Ansätze und Kritiken, die seiner Ansicht nach die Grundlagen historischen Arbeitens in Frage stellen.
Insgesamt ist festzuhalten, dass Behringers Werk ein erhebliches Lesevergnügen bietet. Die Vielfältigkeit der behandelten Akteure und Räume ist beeindruckend, sein Stil anschaulich und der Aufbau abwechslungsreich. Dabei dienen seine Geschichten trotz aller Heterogenität einem übergreifenden Narrativ. Behringers Neuzeit ist, auch wenn er Widersprüche hierzu in einzelnen Episoden thematisiert, als Vorgeschichte der Gegenwart gedacht. Seine Leitmotive hierfür sind unter anderem Parlamentarismus als europäische Erfindung mit globaler Wirkung; Wissensrevolutionen in Europa eingebunden in eine globale Wissensgeschichte; globalwirtschaftliche Verflechtungen mit eigenständigen außereuropäischen Akteuren; und die bis heute nachwirkende Entstehung hybrider Kulturen. Dieses Bild bleibt aber relativ einseitig. Die Traditionsbindung und die erheblichen Kontinuitäten, die auf vielen Ebenen die Epoche prägten und auch scheinbar Vertrautes für heutige Augen faszinierend fremd erscheinen lassen, sind hier nicht wirklich essentieller Teil der Geschichte. Dies geht vermutlich auf Behringers Wunsch zurück, einem breiten Publikum die Relevanz der Epoche für die Gegenwart nahezubringen - ein ehrenwertes Ziel, für das ihm viel Erfolg zu wünschen ist.
Simon Karstens