Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgeschichte der Frühen Neuzeit (= Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), München: C.H.Beck 2023, 1319 S., 36 Farb-, 83 s/w-Abb. und 35 Karten, ISBN 978-3-406-78344-9, EUR 48,00
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Die Wurzeln gegenwärtiger globaler Verflechtungen liegen im 16. Jahrhundert, und Europa nimmt seither weltweit eine Schlüsselrolle ein. Dies ist der Ausgangspunkt für Wolfgang Behringers umfassende und empiriegesättigte Globalgeschichte, die für eine intensive Auseinandersetzung mit der Frühen Neuzeit als Schlüsselperiode zum Verständnis heutiger Problemlagen plädiert und ihre Leser in vielfältige Kontexte und an Schauplätze rund um den Globus mitzunehmen versteht. Gerahmt von methodischen Überlegungen schildert Behringer in chronologischer Folge den Aufbruch des 15. Jahrhunderts, die Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts und den sich anschließenden Fortschritt, der aus den Antworten auf diese krisenhaften Einschnitte hervorgegangen ist. Diese Dramaturgie deutet bereits an, dass Wolfgang Behringer nicht nur neugierig machen und im Detail von vielfältigen globalen Verflechtungen erzählen will. Er nimmt sich auch vor, neue Antworten auf eine alte Frage zu finden: Worauf gründen seit dem 15. Jahrhundert europäische Sonderstellung und Vorsprung, und welche letztlich positive Bilanz lässt sich, bei allen Schattenseiten, mit Blick auf die europäische Expansion in der Frühen Neuzeit ziehen? Erste Hinweise auf seine Argumentation liefern Titel und Titelbild: Der Große Aufbruch wird illustriert durch das Gemälde eines frühneuzeitlichen Segelschiffes, das in Richtung offenes Meer in See sticht. Behringer identifiziert die im 15. Jahrhundert einsetzenden europäischen Entdeckungsreisen als einen zentralen Katalysator für einschneidende Transformationsprozesse, die über die folgenden Jahrhunderte hinweg Wissensordnungen, Wirtschaft, Technologie und Kommunikationswege in Europa grundlegend verändert haben. Die Entdeckung der Neuen Welt durch europäische Akteure im späten 15. Jahrhundert stellte alte Wissensordnungen fundamental in Frage. Aus dem Bewusstsein, in einer neuen Zeit mit neuen Herausforderungen zu leben, entstand, so Behringer, ein spezifisches, auf der eigenen Anschauung und Erfahrung begründetes Weltbild, welches bis heute Prägekraft besitzt.
Behringer nimmt sich vor, eine Geschichte der Kontakte und Verflechtungen außerhalb nationaler oder kontinental vorgegebener Rahmen zu erzählen und setzt Überlegungen zu exemplarisch ausgewählten globalen Ereignissen, Orten, Biographien, Strukturen und Themen zu einem lebendigen Gesamtbild zusammen. Einer "menschenleeren Geschichte" (64) erteilt er ausdrücklich eine Absage. Stattdessen stellt er Momente des konkreten Kulturkontakts und der Hybridisierung in den Vordergrund. [1] Die überzeugendsten Passagen seines Überblickswerks lösen diesen Anspruch ein, wenn er beispielsweise die Biographie der Unternehmerin Beatriz de Luna kreuz und quer über das Mittelmeer hinweg nachvollzieht oder den Spuren der weltreisenden Botanikerin Jeanne Baret nachgeht. Behringer verknüpft seine mikrohistorischen Fallstudien mit außergesellschaftlichen Faktoren sowie mit umwelt- und klimageschichtlichen Ereignissen, indem er beispielsweise Vulkanausbrüche und Kometenbeobachtungen mit ihren globalen Auswirkungen spannungsvoll in seine Überlegungen einbezieht.
Um seine Globalgeschichte abseits nationaler Kategorien zu strukturieren, greift der Autor auf das Konzept der Zivilisationen zurück, bringt also eine chinesische, indische oder islamische Zivilisation ins Spiel, für die er "über politische Grenzen hinweg eine gemeinsame kulturelle Prägung" annimmt (62) und die er in einem Wettbewerb um die besten Antworten auf frühneuzeitliche Krisenmomente begriffen sieht. Dieser Zugang ist nicht neu [2], jedoch auch nicht unumstritten. Ob sich damit der Komplexität und den Ambiguitäten einer multipel verflochtenen Globalgeschichte gerecht werden lässt, bleibt offen. Sicher ist, dass Behringer für die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens in der Frühen Neuzeit seinen Anspruch, mit der Methode der Globalgeschichte "bekannte Dinge anders zu betrachten" (65), nicht vollständig einlösen kann.
Dabei wirken zwei problematische Vorannahmen zusammen: Der Autor ordnet das Osmanische Reich der von ihm postulierten Untersuchungseinheit der islamischen Zivilisation zu und blendet damit sowohl die Eigenlogik des osmanischen Kontexts im Vergleich zu anderen nahöstlichen Staatsentwürfen als auch den multireligiösen Charakter der osmanischen Gesellschaft weitgehend aus. Hinzu kommt, dass er für den islamischen Kontext - und damit auch für das frühneuzeitliche Osmanische Reich - von einer lähmenden Statik ausgerechnet in dem für seine Argumentation zentralen Bereich der Wissensordnung ausgeht: Die Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 besiegelt für ihn das Ende einer dynamischen Wissenskultur in der islamischen Welt. Diese Vorannahmen bleiben hinter dem Stand der Forschung zurück und führen Behringer in eine teleologische Erzählung, die nur in einen osmanischen Niedergang münden kann und das osmanische Fallbeispiel vor allem aus dem Defizit heraus beschreibt: Der Innovation des Buchdrucks habe sich die islamische Welt aus religiösen Motiven verschlossen. Daher konnte, anders als zeitgleich in Europa, keine Wissensrevolution erfolgen, woraus sich ein uneinholbarer Nachteil für das osmanische Reich ergeben habe. Diese Geschichte ließe sich spannungsvoller erzählen, wenn das Wirken maronitischer Druckwerkstätten im osmanischen Herrschaftsraum und die Perspektiven und Interessen der mit der Weitergabe von Wissen im osmanisch-islamischen Kontext befassten Akteure in die Überlegungen einbezogen würden. [3]
Die Fallstricke des Eurozentrismus werden von Behringer zwar reflektiert, lassen ihn im Zuge seiner Überlegungen zur osmanischen Geschichte jedoch trotzdem straucheln. Am Beispiel der Sklaverei zeigt sich, dass Konzepte der europäischen Geschichte nicht zwangsläufig auch als globalhistorische Analysekategorien von universaler Gültigkeit taugen. Das europäisch-transatlantische Verständnis von Sklaverei hilft Behringer nicht dabei, osmanische Dynamiken asymmetrischer Abhängigkeit und Unfreiheit zu verstehen, die durchaus mit Statuszuwachs und materiellem Reichtum einhergehen konnten. Unstimmigkeiten bei der Wiedergabe arabischer und osmanischer Begriffe (357, 655, 719) sowie bei der Datumsangabe nach dem islamischen Kalender (594) tragen zu einem unbefriedigenden Gesamteindruck ebenso bei wie Pauschalisierungen, wie zum Beispiel die Behauptung, es sei "für Regenten in orientalischen Reichen üblich ... [die] nächsten männlichen Angehörigen ... zu blenden oder zu töten" (596).
Während man Behringer gern folgt, wo immer er zum Staunen, Recherchieren und Verknüpfen anregt, wächst die Skepsis, sobald er Werturteile fällt und Vergleiche anstellt. Die Frage, wieso sich Europa in einem angenommenen Wettbewerb der Zivilisationen seit der Frühen Neuzeit durchsetzen konnte, ist nicht die einzige und sicher nicht die wichtigste Linse, durch die sich die von Behringer zusammengestellte reichhaltige Empirie betrachten lässt. Gelänge es, diese Frage beiseite zu lassen, fiele es womöglich leichter, sowohl ergebnisoffen über alternative Wege in die Moderne und vielfältige Antworten auf globale frühneuzeitliche Krisen nachzudenken als auch Globalgeschichte als Mittel der Selbsterkenntnis zu betreiben [4] - beides Ansprüche, die Behringer explizit formuliert und nur teilweise einlösen kann.
Anmerkungen:
[1] Homi Bhabha: Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, Berlin 2012.
[2] Bernard Lewis: What Went Wrong? The Clash Between Modernity and the Middle East, Oxford 2002.
[3] Dana Sajdi (ed.): Ottoman Tulips, Ottoman Coffee. Leisure and Lifestyle in the Eighteenth Century, London 2007, und Geoffrey Roper (ed.): Historical Aspects of Printing and Publishing in Languages of the Middle East, Leiden 2013.
[4] Empfehlenswert dazu der Versuch von Amitav Ghosh: Der Fluch der Muskatnuss, Berlin 2023.
Barbara Henning