Natalia Aleksiun / Hana Kubátová (eds.): Places, Spaces, and Voids in the Holocaust (= European Holocaust Studies; Vol. 3), Göttingen: Wallstein 2021, 344 S., zahlr. Tbl., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3952-1, EUR 42,00
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"Thinking Spatially about the Holocaust", der Titel des Beitrags (Discussion Essay) von Tim Cole und Anne Kelly Knowles, bildet den roten Faden des Sammelbandes. Den Anstoß gab die europäische Edition der Lessons & Legacies-Konferenz im November 2019, die in München mit seinen Stätten des Nazi-Terrors stattfand. Dies habe ein erweitertes Bewusstsein von der Topographie des Holocausts und der Bedeutung von 'place' (als geografisch definiertem Ort mit privaten und öffentlichen Schauplätzen) und 'space' (als sozialer Kategorie der Interaktion von Menschen an einem bestimmten Ort) gefördert, betonen die Herausgeberinnen in ihrer elaborierten Einführung. Sie verweisen auf den "spatial turn" [1] in der Holocaustforschung. Die Rolle von places, spaces und voids im Holocaust wird in neun interdisziplinären Fallstudien neu akzentuiert.
Andrea Löw und Kim Wünschmann stellen München in den Fokus. Ihre Analyse von visuellen Quellen, zwei Kurz-Filmen, die im Juni 1938, fünf Monate vor dem Novemberpogrom, den Abriss der Hauptsynagoge dokumentierten, macht Reaktionen auf Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt und das Ausmaß der Beteiligung ("situative Komplizenschaft") frappierend sichtbar. Die Verlinkung politischer und sozialer Prozesse mit bestimmten Topographien zeigt antisemitische Ausgrenzung in einer gewalttätigen Radikalisierung am konkreten Ort. Angestoßen vom "Testfall" München begann im August 1938 der als öffentliches Schauspiel inszenierte Abriss der Synagoge in Nürnberg, gefolgt von Kaiserslautern und schließlich Dortmund.
In einen bisher kaum erforschten 'space' führt Michal Frankls Beitrag über das Niemandsland an der tschechoslowakisch-ungarischen Demarkationslinie, wohin diese beiden Länder nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch (2.11.1938) Jüdinnen und Juden, die nicht die jeweilige Staatsangehörigkeit besaßen, abschoben und sie ohne jede Infrastruktur ihrem Schicksal überließen. Im Kontext der Erosion der Souveränität der Nationalstaaten in Ostmitteleuropa 1938 kam es zum immer radikaleren Ausschluss und zur massenhaften Ausbürgerung von Juden, die zu staatenlosen Flüchtlingen wurden. Die Gegenüberstellung staatlicher Quellen mit Berichten humanitärer Organisationen sowie (nur wenig vorhandenen) Erinnerungen von Opfern vermittelt ein eindringliches Bild. Das Niemandsland sollte, so die Anregung des Autors, sowohl in den Holocaust- als auch den Refugee-Studies als spezifischer Raum der Ausgrenzung wahrgenommen werden.
Um Staatsbürgerschaft geht es u.a. auch im Artikel von Beate Meyer, die erste Ergebnisse ihres Projekts zur Lage der als "ausländisch" klassifizierten Jüdinnen und Juden in NS-Deutschland präsentiert. Bereits 1933 von den antijüdischen Boykottmaßnahmen betroffen, kam es zu zahlreichen (meist vergeblichen) Interventionen ihrer Konsulate im Auswärtigen Amt, die 1938/39 drastisch zunahmen und nach dem Überfall auf Polen und der Besetzung der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Teilen Frankreichs weiter anstiegen. Ein eventueller Schutz durch den Herkunftsstaat, so der Befund, hing davon ab, ob dieser mit NS-Deutschland verbündet oder neutral war oder dem feindlichen Lager angehörte. Ausländische Staatsbürgerschaft bot per se keinen Schutz vor Verfolgung, konnte aber ihre Auswirkung abmildern. Ab Herbst 1941 schützte sie jedoch die im Reich verbliebenen Juden, wie exemplarischen Schicksale eindringlich zeigen, vor der Deportation in die Lager, was weiter zu erforschen ist.
Das Autorenteam Tal Bruttmann, Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller bearbeitet ebenfalls eine visuelle Täter-Quelle, bekannt als "Auschwitz-Album", fotografiert von SS-Hauptscharführer Bernhard Wagner (191 Fotos an sieben verschiedenen Orten). Es geht um die Umsetzung des Massenmords der ungarischen Juden im Frühjahr und Sommer 1944 in Auschwitz-Birkenau. Die Wechselwirkungen zwischen der Besetzung des Raumes und der Inszenierung von Macht werden anhand mehrerer minutiös zergliederter Bildserien nachgezeichnet, die die Rolle der personalisierten Gewalt der SS-Wachen im Kontext der Vernichtung der Europäischen Juden und die brutalen Handlungen im Mikroraum sichtbar machen. Überraschenderweise, so die Autoren, ist der "Raum" von Auschwitz-Birkenau als solcher nicht zu sehen, es gibt keine Ansicht des Lagers aus der Ferne.
Um den Raum 'Konzentrationslager' geht es auch im Essay von Dominique Schröder. Sie analysiert und interpretiert die Sprache jüdischer und politischer Häftlinge in ihren in Konzentrationslagern geführten Tagebüchern, wobei es nicht um einen weiteren Beitrag zur Herausarbeitung einer spezifische "Lagersprache" geht, sondern um die Frage, wie die Diaristen mit dem "Unsagbaren", dem "Unbeschreiblichen" umgehen. Der Holocaust sei aber, so der Befund, nicht "un-beschreibbar" gewesen, die Autor*innen hätten vielmehr Wege gefunden, das, was für sie unaussprechlich war, in einer Meta-Sprache auszudrücken, beispielsweise durch den Gebrauch von Auslassungen in Form von Gedankenstrichen und Punkten, die zu Leerstellen (voids), zu Platzhaltern des Unaussprechlichen werden.
In den geografischen Raum Nordkaukasus führt Irina Rebrovas Beitrag, in den nach dem 21. Juni 1941 Jüdinnen und Juden, zusammen mit anderen sowjetischen Einwohnern, von den Sowjets evakuiert wurden. In Berichten jüdischer Überlebender, die im Sommer/Herbst dort eintrafen, werde der Nordkaukasus als wohlhabende Region mit angenehmem Klima und freundlicher Aufnahme durch die Einheimischen erinnert. Fast ein Jahr mussten die Neuankömmlinge meist harte Arbeit in Kolchosen verrichten, hätten aber selten Antisemitismus erlebt. Nach der Ankunft der deutschen Wehrmacht 1942 habe dann ein Teil der evakuierten Juden bei Ortsansässigen Unterschlupf und Unterstützung gefunden. Rebrova folgert allerdings aus den Zeugenaussagen, dass nur wenige Juden im Nordkaukasus überlebten. An dieser Stelle wären genauere Angaben wünschenswert. Tatsächlich fielen Tausende Juden den Mordkommandos der Einsatzgruppe D zum Opfer.
Malena Chinskis Beitrag führt in Antagonismen der frühen Holocaustforschung zurück. Sie beschreibt den Versuch von Michel Borwicz und Joseph Wulf, die seit 1945 in der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Krakau aktiv gewesen waren, mit der Gründung des Forshung-tsenter far geshikte fun poylishe Yidn 1947 in Paris "der Holocaust-Forschung eine neue Adresse zu geben". Nach dem Entstehen des Jüdischen Historischen Instituts (ZIH) in Warschau unter kommunistischem Einfluss wollten sie durch diese Verlagerung von place und space ihre historische Arbeit in einem neuen politischen und sozialen Kontext fortsetzen (was nur wenige Jahre gelang), zumal Paris ein Ziel überlebender Juden aus Osteuropa mit etwa 80.000 Yiddish Sprechenden geworden war.
Erstaunliche Einblicke in die belarussische Volkserzählung über den Judenmord vermittelt die Anthropologin Anna Engelking, die von 1993-2015 im Rahmen einer ethnografischen Feldforschung in Dörfern von West- und Ost-Belarus und der Nordwestukraine rund 700 Gespräche aufzeichnete. Niemand in dieser archaischen Welt habe versucht, die Tatsachen des Judenmords und die Beteiligung von Menschen aus den eigenen Reihen zu negieren. Der "Imperativ der Selbstverteidigung" beruhe vielmehr darauf, die eigenen "Verräter" aus der Gemeinschaft auszuschließen. Für sie waren "(Mit-)Täter" im Holocaust Menschen "von uns", somit Doppel-Täter, die Verbrechen an den Juden, aber auch an der eigenen Gruppe und deren Menschlichkeit begangen hatten. Die Autorin nennt diese Erzählung "unimplicated narrative", ein "absichtsloses Narrativ". Die reale, symbolische und diskursive Eliminierung dieser "Nicht-Menschen" sei der Mechanismus, der die kollektive Identität der bäuerlichen Gemeinschaft als menschliche Gesellschaft schütze.
Die spannungsreiche, durch viele internationale Akteure geprägte Geschichte der Transformation des Geländes des ehemaligen Vernichtungslagers Sobibór von einem "Ort der Nicht-Erinnerung" in eine "Erinnerungslandschaft" untersucht Hannah Wilson. Sie betont, wie sehr diese Transformation vom "forensischen 'turn'" bestimmt wurde, von dem vor Ort tätigen internationalen Ausgrabungsprojekt, und beklagt den "lack of communication" zwischen den Archäologen und dem zuständigen Museum von Majdanek, das heute 700 ausgegrabene Objekte zeigt. Eine gezieltere anthropologische Analyse dieser materiellen Spuren würde das Bewusstsein für das Lager fördern und ein besseres Verständnis für die Funktionsweise des Ortes während und nach dem Krieg vermitteln.
Auch der den neun Essays folgende Quellenkommentar (Julie Dawson) und die drei sich anschließenden Projektbeschreibungen (Denisa Nestáková, Florian Zabransky, Svenja Bethke) inspirieren zu neuen Wegen und legen nahe, dass eine integrierte Geschichte des Holocaust nicht von den Kategorien Raum und Ort getrennt werden kann.
Anmerkung:
[1] Anne Kelly Knowles / Tim Cole / Alberto Giordano (eds.): Geography of the Holocaust. The Spatial Humanities Series, Bloomington 2014.
Beate Kosmala