Sigrid Ruby (Hg.): 150 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Gießen. Unter Mitarbeit von Joachim Hendel, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2024, 322 S., ISBN 978-3-515-13671-6, EUR 49,00
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Lara Perry: History's Beauties. Women and the National Portrait Gallery, 1856-1900, Aldershot: Ashgate 2006
Ingrid Pfeiffer / Max Hollein (Hgg.): Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932. Ausstellung Kunsthalle Schirn Frankfurt/ Main, Köln: Wienand 2015
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Der Jubiläumsband widmet sich der Professur für Kunstwissenschaft, die 1874 für Hugo von Ritgen in Gießen eingerichtet wurde. Mit 25 Beiträgen und zahlreichen Abbildungen dokumentiert er nicht nur weite Teile der Fachgeschichte, sondern reflektiert auch die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich der Wandel der Kunstgeschichte vollzog.
Eine profunde Untersuchung widmet Yvonne Rickert Hugo von Ritgen (1811-1889) und den Anfängen des Fachs, das vor seiner Etablierung in Verbindung mit Architekturlehre und Philosophie Teil eines Studium generale war (84). Unter Leitung Ritgens wurde die Wartburg restauriert und erneuert. [1] Der Architekt und Kunsthistoriker, der über eine reiche Lehrmittelsammlung verfügte, las über die Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart und erteilte Unterricht im freien Zeichnen und Malen sowie im konstruktiven Zeichnen. War die Aneignung künstlerischer Techniken Bedingung für das angemessene Beschreiben und Bewerten von Kunstwerken, so war Zeichnen als Grundlage der Konstruktion - wie auch die theoretische Unterweisung - für das Architekturstudium unerlässlich. Damit folgte Ritgen dem polytechnischen Konzept, das die in der Französischen Revolution gegründete Pariser École polytechnique in ganz Europa verbreitet hatte. In der Zeit fortschreitender Industrialisierung kam es auf die Ausbildung möglichst vieler Bau- und Ingenieurwissenschaftler an, um die Infrastruktur (Straßen-Brücken-, Wasser- und Eisenbahnbau) anzulegen und zu verbessern. Die Verbindung von Kunst- und Industriegeschichte ist unter dem Aspekt von Interesse, dass das historische Faktum den kritischen Blick auf die Weiterentwicklung des Fachs nahelegt.
Dem zu Lebzeiten berühmten und später völlig vergessenen Philosophen Moritz Carrière (1817-1895) gelten Ulrike Ilgs überaus gründliche und ertragreiche Forschungsbemühungen. Sie erhellen die Bedeutung Carrières als Mitbegründer des Fachs an der Universität. Denn er verband wie viele Gelehrte des 19. Jahrhunderts mehrere geistes- und kulturgeschichtliche Disziplinen in seinen Publikationen und in der Lehre, so Philosophie, Geschichte und Theologie mit Kunstgeschichte.
Christian Rauch (1877-1976), wie Ritgen Professor für Architektur und Kunstgeschichte, war, wie Yvonne Rickert darlegt, die bestimmende Autorität des Instituts von den 1920er bis in die 1940er Jahre. Als Bauforscher und Denkmalpfleger machte er sich besonders durch die Rekonstruktion der Ingelheimer Pfalz einen Namen. Er fügte der Praxis des Zeichnens das moderne, zukunftsweisende Medium der Fotografie zu. Der 1928 erbaute Kunsthistorische Hörsaal geriet ihm zum Alleinstellungsmerkmal. [2] Recherchen des Universitätsarchivars Joachim Hendel, der an dem Band wesentlich mitgearbeitet hat, erbrachten die einzelnen Standorte des Instituts. Als Referenz für den Hörsaal bezeichnet er das Marburger Kunstinstitut, den berühmten Bildungsbau der Weimarer Republik (25). Der eigenständige Flachbau glich mit der großen Projektionswand sowie Dia-Apparaten und einem Schmalfilm-Apparat dem Kino, während ein erhöhter Einbau die Kanzel katholischer Kirchen zitiert. So verortete Rauch den Raum der Kunstgeschichte zwischen Kino und Kirche.
Eine ungemeine Dynamik entwickelte sich während des Ordinariats von Gottfried Boehm (1979-86). Holger Boeker schildert den Paradigmenwechsel des Fachs (269), den Bernd Growe 1979 bis 1990, wie Thomas Lange ausführt, mitbestimmte. Die bis dahin ausgeschlossene zeitgenössische Kunst rückte in den Fokus der hermeneutisch ausgerichteten Lehre und der neuen Formen kunstgeschichtlicher Praxis. Die Veranstaltungsreihe "Seminar und Atelier" ermöglichte den Studierenden den Austausch mit der Avantgarde, darunter A. R. Penck, Ulrich Rückriem, Gotthard Graubner und Joseph Beuys. Ein Novum war auch die Einführung einer Kunstprofessur samt eines Preises, den Gerhard Höhme als Erster erhielt.
Nachhaltig wirkt der von Boehm initiierte, später auf 15 Werke angewachsene Kunstweg zwischen den beiden Bereichen des Campus: Karl Prantl, Hans Steinbrenner, Per Kirkeby, Stephan Balkenhol, Claus Bury und Norbert Radermacher. Alma-Elisa Kittners fundierte Analysen vermitteln die formalästhetische Qualität der Werke. Ihre Kritik an den Veränderungen und Neubauten auf dem Campus, die die ursprüngliche Form des Kunstwegs zerstörten, sowie an dem Ausschluss von Künstlerinnen gehen als zeittypischer Umgang mit Frauen und kulturhistorischen Zeugnissen in die Annalen der Justus-Liebig-Universität ein.
In den 1980er Jahren, der Zeit der Reformbestrebungen der entstehenden Massenuniversität, wurde dem Institut für Kunstpädagogik eine Professur für Kunstgeschichte zugeteilt, die die Lehramtsausbildung verbessern sollte. Wie Claudia Hattendorfs akribische Prüfung der Akten im Universitätsarchiv ergab, hatte die Zuweisung zuvor sämtliche relevanten Personen und Instanzen in veritable Kämpfe verwickelt. Verschärft wurden sie durch den Konflikt zwischen der konservativen Kunstpädagogik und der innovativen Visuellen Kommunikation.
Die Geschichte der Gießener Kunstwissenschaft wäre ohne die Projekte der Frauenbewegung der 1970/80er Jahre unvollständig. Sarah Kristin Happersberger beschreibt zwei Ausstellungen zum Internationalen Jahr der Frau 1975 als Konfliktfeld unterschiedlicher emanzipatorischer Positionen. Die eine bleibt als politische Aktion von 14 Frauenorganisationen im Gedächtnis. Die andere, feministisch orientierte, entstand in einem Projektseminar von Lehrenden und Studierenden der Kunstpädagogik und Kunstgeschichte gemäß des bahnbrechenden neuen Fachkonzepts Visuelle Kommunikation. Wie sich Susanne Liessegang erinnert, mündete die Begeisterung einiger Studentinnen für zeitgenössische Künstlerinnen in Interventionen, die das Kunsthistorische Institut für die neue Bewegung öffnen sollten. Dagmar Klein stellt eine Galerie für aktuelle Gegenwartskunst vor. Hier lag alles - die Auswahl der Künstler:innen, Katalog, Präsentation und Finanzierung - in der Hand von Studierenden. Das Archiv, das die Initiatorin Ruth Antpöhler im Interview herzeigt, stellt das waghalsige Unterfangen vor Augen, das in den später 1980er Jahren die Gießener Kunstszene aufmischte.
Das düsterste Kapitel des Instituts, die Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, erschließt Annabel Ruckdeschel am Beispiel des Zeichenlehrers Walter Kröll (1911-1976) und seines universitären Unterstützernetzwerks, darunter Rauch. Da sich der Stil seiner Bilder weniger der nationalsozialistischen Propaganda anpasste als einem konventionellen Geschmack und er 1947 behauptete, "er habe im scharfen Gegensatz zu der N.S. - Ideologie gestanden" (202), konnte er seine recht erfolgreiche Tätigkeit bis 1973, besonders innerhalb des "Kunst am Bau"- Programms, fortsetzen.
Weitgehend vergessen ist der jüdische Kaufmann, Kunstsammler und Stifter Gustav Bock (1857-1938), dessen mäzenatisches Wirken im Rahmen der von ihm mitbegründeten Gesellschaft der Gießener Kunstfreunde Andreas Ay beschreibt. Die Nationalsozialisten lösten seine Stiftungen auf und entzogen seine Kunstwerke der Öffentlichkeit.
Mischa Steidl entwirft ein realistisches Bild der ebenso anspruchsvollen wie erfolgreichen Reihe "Kunstgeschichte und zeitgenössische Kunst" (1995-2009), die als Vorwegnahme beruflicher Praxis alle Kriterien professioneller Ausstellungen erfüllte. Im Zusammenwirken mit Josef Felix Müller, Christine und Irene Hohenbüchler, Marko Lehanka, Tamara Grcic und anderen erarbeiteten Studierende unter Leitung des Ordinarius Marcel Baumgartner Ausstellungen bis hin zur Präsentation in der Gießener Kunsthalle.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Beiträge zeichnet sich das Buch durch eine Einheitlichkeit und Geschlossenheit aus, die bei Sammelbänden selten zu finden ist. Sie resultieren aus den sorgsamen und aufwendigen Archivstudien. Dem Band ist zu wünschen, dass er über den einschlägigen Leserkreis hinaus ein größeres Publikum anspricht.
Anmerkungen:
[1] Siehe auch Sigrid Ruby / Yvonne Rickert (Hgg.): Moderne und Mittelalter. Die Baukunst des Hugo von Ritgen, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Oberhessischen Museum Gießen, Weimar 2024.
[2] Der originäre Bau wurde 1997 in "Margarete-Bieber-Saal" umbenannt.
Ellen Spickernagel