Ulrike Schmieder: Versklavung im Atlantischen Raum. Orte des Gedenkens, Orte des Verschweigens in Frankreich und Spanien, Martinique und Kuba , Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, XXI + 1406 S., ISBN 978-3-11-120846-6, EUR 109,95
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Es ist sehr bemerkenswert, welche umfangreichen Forschungen Ulrike Schmieder auf der Grundlage einer DFG-Sachbeihilfe anstellen konnte. Von 2018 bis 2022 war sie von ihrer Geschäftsführung des Centre for Atlantic and Global Studies der Leibniz Universität Hannover befreit, um das Projekt "Erinnerungen an die atlantische Sklaverei. Frankreich und Spanien, die französische Karibik und Kuba im Vergleich und im Kontext globaler Debatten um das Gedenken an Sklavenhandel und Sklaverei" durchzuführen. Das Vorhaben baute auf ihren vorangegangenen Forschungen zur Situation der ehemals versklavten Menschen auf Martinique und Kuba nach der Abschaffung der Sklaverei 1848 bzw. 1886 auf. [1] Wenn wir nicht noch weitere großartige Werke in der Zukunft von ihr erwarten würden, könnte man das nun als Ergebnis vorgelegte, mehr als 1400 Seiten umfassende Buch mit Fug und Recht als Ulrike Schmieders opus magnum bezeichnen. [2]
Die breit angelegte Studie "widmet sich pluralen, parallel existierenden und konkurrierenden Erinnerungskulturen und der lokalen und nationalen Geschichtspolitik (definiert als 'öffentlicher Gebrauch der Geschichte durch Deutungseliten') zur Versklavung in Frankreich und Spanien, Martinique und Kuba". (18) Sie nimmt dabei in erster Linie physische Erinnerungsorte an die Versklavung (Denkmäler, Museen und Orte / Überreste, die historisch mit der Sklaverei verbunden waren) unter Berücksichtigung des jeweiligen sozio-kulturellen Kontextes, also der diskursiven Chiffren (Cornelia Siebeck), in den Blick. Darüber hinaus schenkt Frau Schmieder auch den Orten des (bewussten und unbewussten) Verschweigens bzw. der verdrängten Erinnerung sowie der Gegen- und Minderheitserinnerungen der Nachfahren der versklavten Afrikaner*innen gebührende Aufmerksamkeit. Contre-mémoires entstehen, so Schmieders Beobachtung, häufig an Orten des Protestes wie zunächst am Denkmal, dann am verbleibenden Sockel des Monumentes für den Menschenhändler Antonio López in Barcelona.
Natürlich konnte Schmieder nicht sämtliche Erinnerungsorte der vier ausgewählten Länder berücksichtigen, sondern musste eine Auswahl treffen. Neben den lieux de mémoire in den jeweiligen Hauptstädten (Paris, Madrid, Fort-de-France, Havanna) hat sie sich auf ähnliche Orte in Barcelona, Cádiz, San Fernando de Cádiz, Sevilla, Bilbao, Nantes, La Rochelle, Bordeaux, Saint-Malo, Mantanza, Triunvirato, Trois-Ilets, Le Diamant, Saint-Pierre, Le Precheur, Le Carbet und Riviere-Pilote konzentriert. Als theoretische Zugänge verwendet die Autorin auf angenehm unaufdringliche Weise neben dem bereits erwähnten Konzept der lieux de mémoire von Pierre Nora vor allem Ansätze der Memory Studies, Heritage Studies, Public History und Oral History. [3]
Es zeichnet das Werk aus, dass Ulrike Schmieder wirklich alle Orte selbst besucht and vor Ort Interviews mit möglichst allen Beteiligten (d.h. mit Museumsleuten, Aktivist*innen, Politiker*innen, Historiker*innen, Intellektuellen, Bürger*innen etc.) geführt hat. Am Ende geht es ihr darum, eine Vergleichsperspektive zu entwickeln, die hilft, die Unterschiede, Brüche, Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten im Umgang mit dem schwierigen Erbe der Sklaverei und dem damit eng verbundenen Kolonialismus aufzuzeigen.
Das Werk besteht aus zwei Bänden. Der erste Band setzt ein mit einem sehr hilfreichen Kommentar zum mittlerweile ziemlich unübersichtlichen Forschungsstand. Auf eine konzise historische Hinführung folgen dann hilfreiche Überlegungen zu den politischen und gesellschaftlichen Kontroversen über das Gedenken an die Versklavung von Millionen Menschen. Dabei geht Ulrike Schmieder nicht nur auf die sehr unterschiedlichen Debatten in ihren vier Fokusländern ein, sondern skizziert auch die Diskussionen in Großbritannien, Portugal, Schweden, Dänemark, Deutschland und den Niederlanden. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist in Großbritannien am weitesten fortgeschritten, gefolgt von den Bemühungen in Frankreich und den Niederlanden. In Spanien und vor allem in Portugal kann von einer gesellschaftlichen Aufarbeitung bislang nicht wirklich die Rede sein. In Portugal sind die Dauerausstellungen der Museen immer noch Stätten des Verschweigens der Versklavung und der Glorifizierung des Kolonialreiches. In Deutschland habe, so Schmieder, "die Diversität der historischen Beteiligung an der Versklavung und der heutige Föderalismus [...] auch zu einer Zersplitterung der postkolonialen Erinnerungskultur, die stark auf den Kolonialismus des Deutschen Kaiserreiches fokussiert" (1298), geführt.
Der zweite Band umfasst dann die vier Fallstudien, wobei wir am Rande auch eine Reihe nützlicher und interessanter Informationen zu anderen Erinnerungsorten in der Karibik erfahren. Stellt man die Situation in Frankreich und Spanien einander gegenüber, so fällt auf, dass in Frankreich allein die Anzahl der Orte, die an die Versklavung von Afrikaner*innen und ihre Verschleppung über den Atlantik erinnern, deutlich höher ist als in Spanien. Schmieder erklärt diese Diskrepanz aus der Tatsache, dass sich in Spanien die Erinnerungspolitik in erster Linie immer noch auf die Aufarbeitung des Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur konzentriert. Zwar gäbe es einige engagierte spanische Historiker*innen und ein paar zivilgesellschaftliche Akteur*innen, doch könne man von einem umfassenden Engagement nur in Barcelona sprechen. In der Öffentlichkeit, in den Schulen und in den Museen herrsche allgemein eine Atmosphäre der kolonialen Nostalgie gepaart mit einer Verherrlichung des vermeintlich goldenen Zeitalters ("siglo de oro") von 1550 bis 1660. Konstatieren wir somit in den Museen in Spanien beredtes Schweigen, so gibt es zwar auch in Paris kein Sklavereimuseum, dafür aber in Nantes das Château de Ducs de Bretagne / Musée d'Historie, in Bordeaux das Musée d'Aquitaine und in La Rochelle das Musée du Nouveau Monde. Darüber hinaus existieren entlang der Route des abolitions des l'esclavage im Osten Frankreichs weitere museale Einrichtungen. Allerdings sei, so die Autorin, das Niveau und die Qualität der Darstellungen sehr unterschiedlich. Was nun den Vergleich zwischen Kuba und Martinique angeht, so mag es an dieser Stelle ausreichen, zusammenfassend fünf zentrale Punkte zu nennen, die Ulrike Schmieder herausarbeiten konnte:
- "Quellen, die die Perspektive der Versklavten und ihrer Nachfahr*innen wiedergeben, werden in den staatlichen Museen beider Inseln mit der Ausnahme der Pagerie in Martinique nicht ausgestellt, Lebensgeschichten der versklavten Menschen und Erinnerungen der Nachfahr*innen nicht erzählt." (1282)
- "Ökonomistische Diskurse über die Versklavung, verbunden mit einer Objektifizierung der versklavten Afrikaner*innen, dominieren die Museumsnarrative, die Sprache wurde nicht dekolonialisiert." (1282)
- "Öffentliche Orte des Gedenkens an den Widerstand der Nachfahr*innen der Versklavten gegen Zwangsarbeit und rassistische Diskriminierung wurden in Martinique geschaffen, in Kuba fehlen sie weitgehend." (1283)
- "In Martinique wurden die Monumente für Eroberer und Vertreter der Kolonialmacht, Versklaver*innen und den weißen Abolitionisten Schœlcher im Kontext der Black Lives Matter Bewegung im Jahr 2020 zerstört oder nach Konsultation der Gemeinderäte oder speziell dafür eingesetzter Kommissionen abgebaut. In Kuba wurde über die Monumente für Versklaver, Verteidiger der Sklaverei und Autoren rassistische Massaker nicht einmal öffentlich diskutiert."
- "Martinikanische Debatten kreisen sehr stark um das Thema der symbolischen, aber auch materiellen Reparationen für die Versklavung. Diese spielen in Kuba kaum eine Rolle." (1283)
Auch wenn man sich am Ende vielleicht eine vergleichende Einordnung der vier Exempla in die allgemeinen globalen Debatten um Kulturerbe, Erinnerungspolitik und Memorialkulturen gewünscht hätte, hat Ulrike Schmieder insgesamt ein großartiges Standardwerk vorgelegt, das für das Forschungsfeld der erinnerungskulturellen Auf- und Verarbeitung der Sklaverei in den ehemaligen Kolonialreichen und den ehemals kolonialisierten Gesellschaften wegweisend ist.
Anmerkungen:
[1] Ulrike Schmieder: Nach der Sklaverei, Martinique und Kuba im Vergleich, 2. Aufl., Berlin 2017.
[2] Aus dem Projekt sind neben der Monographie folgende gehaltvolle Artikel und Bücher entstanden: Ulrike Schmieder: Museos marítimos europeos y esclavitud: ¿memoria u olvido deliberado? Barcelona, Londres (Greenwich), Lisboa (Belém) y Flensburgo, in: Del olvido a la memoria. La esclavitud en la España contemporánea, hg. von Martín Rodrigo y Alharilla, Barcelona 2022, 283-316; Ulrike Schmieder / Michael Zeuske (eds.): Falling Statues Around the Atlantic (= Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und Vergleichende Gesellschaftsforschung; 31,3-4 (2021), 297-410); Ulrike Schmieder: Lugares de memoria, lugares de silencio: la esclavitud atlántica en museos españoles y cubanos desde una perspectiva comparada internacional, in: Jangwa Pana 20,1 (2021), 52-80 sowie Dies.: Dealing with Dissonant Cultural Heritage: Traces of Enslavers in European Cityscapes, in: Cultural Heritage and Slavery: Perspectives from Europe, ed. by Stephan Conermann / Claudia Rauhut / Ulrike Schmieder / Michael Zeuske, Berlin / Boston 2023, 1-84.
[3] Zu den grundlegenden Werken, auf die sich Ulrike Schmieder in ihrer Arbeit stützt, zählen Jennifer Eichstedt / Stephen Small: Representations of Slavery. Race and Ideology in Plantation Museums, Washington, D.C. 2002; Kristin L. Gallas / James DeWolf Perry: Interpreting Slavery at Museums and Historic Sites, Lanham 2015 und Michel-Rolph Trouillot: Silencing the Past: Power and the Production of History, Boston 2015.
Stephan Conermann