Marian Füssel: Wissen. Konzepte - Praktiken - Prozesse (= Historische Einführungen; Bd. 19), Frankfurt/M.: Campus 2021, 235 S., ISBN 978-3-593-51417-8, EUR 18,95
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Seit ihrer Formierung vor rund 20 Jahren hat sich die Wissensgeschichte zu einer der am dynamischsten wachsenden Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft wie auch der historisch orientierten Kulturwissenschaften insgesamt entwickelt; davon zeugen neben einem steigenden Publikationsaufkommen auch die Einrichtung entsprechender Institute und Forschungseinrichtungen, ein beständig wachsendes Angebot an Einführungen, Hand- bzw. Jahrbüchern, Internetressourcen und Textsammlungen (u.a. von Marian Füssel selbst) sowie zuletzt die Gründung eines eigenen "Journal for the History of Knowledge" im Jahr 2020. Dies ruft nach einer übersichtlichen Einführung in das Fachgebiet, ist zugleich aber auch Anlass für eine notwendige Selbstverständigung darüber, was Wissensgeschichte eigentlich ist und wie sie sich zu anderen Zugängen wie etwa der Kultur- oder auch der Globalgeschichte verhält. [1]
Denn das Profil der neuen Teildisziplin ist inhaltlich und methodisch so breit und vielfältig, wie es theoretisch-konzeptionell unscharf ist: Wissensgeschichte beruft sich in ihren Ursprüngen einerseits auf grundlegende Texte der Wissenschaftstheorie (Ludwik Fleck, Thomas S. Kuhn) und der historischen Epistemologie (Gaston Bachelard, Georges Canguilhem) und knüpft damit partiell an die Wissenschaftsgeschichte an, von der sie sich zugleich abgrenzt und deren meist auf die Geschichte der Naturwissenschaften bezogene disziplinäre und epistemologische Grenzen sie bewusst zu überschreiten sucht. Gerade in ihrer geschichtswissenschaftlich grundierten Formierung zu Beginn des neuen Jahrtausends (u.a. durch Achim Landwehr und Jakob Vogel) orientiert sie sich deswegen andererseits an der Wissenssoziologie (Karl Mannheim, Peter L. Berger / Thomas Luckmann) sowie den kulturwissenschaftlichen bzw. -soziologischen Ansätzen von Michel Foucault und Pierre Bourdieu und betont in deren Nachfolge die 'Gemachtheit' des Wissens, womit sie sich zugleich von der deutlich älteren Ideengeschichte abgrenzt und, vereinfacht gesagt, anders als diese gerade nicht auf "Ideen" im Sinne überzeitlich existierender, essentialistischer Entitäten zielt, sondern auf Diskurse und - vor allem - Praktiken.
Wissensgeschichte ist somit, wie Marian Füssel im ersten Kapitel seiner "Historischen Einführung" einleitend feststellt, "kein klar gefasster Gegenstandsbereich, sondern eine bestimmte Perspektive auf eine potentiell unbegrenzte Vielfalt von Gegenständen". (17) Auch diese "Perspektive" ist allerdings in sich nicht geschlossen, sondern hat sich in der Auseinandersetzung mit anderen "Perspektiven" und Disziplinen bzw. Teildisziplinen konstituiert und entwickelt sich im beständigen Dialog mit diesen wie auch mit ihren Untersuchungsgegenständen kontinuierlich weiter. Es ist daher nur folgerichtig, dass sich Füssel dem Thema "Wissen" nicht definitorisch und auch nicht von den Gegenständen oder unterschiedlichen Formen des Wissens her nähert, sondern im Anschluss an eine kenntnisreiche Tour d'Horizon durch die verschiedenen Etappen der Formierung der Wissensgeschichte einschließlich ihrer Seitenwege konsequent die Dispositive und Praktiken in den Vordergrund rückt, durch die Wissen hervorgebracht wurde und wird (Kap. 2-5).
Das erste (und umfangreichste) dieser insgesamt vier Kapitel ist den Orten und Räumen des Wissens gewidmet, wobei Raum hier im Sinne des spatial turn als sozial konstituiert und zugleich als soziales Strukturelement begriffen und entsprechend etabliert wird. Anschließend werden unterschiedliche Orte und Institutionen des Wissens in ihren jeweiligen Eigenarten und Funktionen vorgestellt, von Städten über Klöster und Orden sowie Schulen, Universitäten und Akademien hin zu den Räumen und Orten (Werkstätten) handwerklichen Wissens. Höfe als Orte der Macht brachten ebenso spezifisches Wissen hervor (Alchemie) wie staatliche Organisation später die Wissensgenerierung strukturierte; ähnliches gilt für gelehrte Gesellschaften und arkane Kommunikationsräume wie Logen und Geheimbünde. Eine zentrale Rolle spielten sodann Archive, Bibliotheken, Wunderkammern und Museen als Orte des Sammelns ebenso wie Labore, Felder, Gärten, Observatorien usw. als Orte der Erfahrung. Den Abschluss macht schließlich ein Einblick in die Dimensionen imperialen und kolonialen Wissens und der sich daraus ergebenden Begegnungen und Vermischungen von Wissen.
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit den Akteuren des Wissens, wobei wiederum einleitend die Rolle von Akteuren im Sinne der neueren Kulturgeschichte und der Akteur-Netzwerk-Theorie kurz skizziert wird, bevor dann grundlegende Kategorien wie Geschlecht und soziale Rollen diskutiert werden. Aber auch institutionelle Akteure sowie "prekäre Figuren" wie Scharlatane, Projektemacher und "Go Betweens" spielten eine wichtige Rolle bei der Wissensproduktion. Dies gilt in womöglich noch größerem Maß für die Praktiken des Wissens, die nach epistemologischen Kriterien gruppiert vorgestellt werden - vom Sich-die-Welt-Erschließen (Lesen, Reisen) über das Lehren, Prüfen und Zertifizieren sowie das Beobachten, Messen, Experimentieren hin zum Sammeln, Ordnen, Klassifizieren und schließlich den Praktiken der Wissensverfertigung, also dem Streiten, Kritisieren, Zitieren und Zensieren, das in Anlehnung an Foucault und Bourdieu als ebenso zentral für die Geltungsansprüche von Wissen zu bewerten ist wie die ökonomischen Aspekte der Wissensproduktion. Als letztes nimmt Füssel die Medien bzw. die Medialität und die Objekte in den Blick, also "Wissensspeicher" wie Bücher oder Karten genauso wie epistemische Bilder und Dinge, die Wissen nicht nur vermittel(te)n, sondern zugleich selbst hervorbringen, sowie technologisierte Ordnungs- und "Aufschreibesysteme" bis hin zur Künstlichen Intelligenz.
Durch diese fast ein wenig enzyklopädisch anmutende und mit souveräner Kenntnis der neueren Forschungsliteratur wie der unterschiedlichen theoretischen Angebote und Bezugsrahmen ausgebreitete Darstellung der wichtigsten Forschungs- und Gegenstandsbereiche der Wissensgeschichte gelingt es Füssel, gleichsam en passant eine Geschichte des Wissens selbst und seiner historischen Entstehung und Entwicklung vor allem in der Frühen Neuzeit zu schreiben, ohne sich allzu sehr auf die in der Einleitung angesprochenen (und verworfenen) Aporien der Frage, was denn Wissen eigentlich sei und ausmache, einlassen zu müssen - dies ergibt sich mehr oder weniger beiläufig daraus, womit die Wissensgeschichte sich beschäftigt und was sie selbst an Wissen über ihren Gegenstand hervorbringt. Um dies zu systematisieren und diese Systematisierung zugleich kritisch zu hinterfragen, wendet sich das letzte Kapitel noch einmal den wichtigsten Stationen der Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte zu, diesmal unter dem Aspekt der ordnenden Narrative und Periodisierungen von Thomas S. Kuhn bis zu Peter Burke, sowie den in der Geschichte des Wissens erkennbaren Prozessen (etwa Professionalisierung und Verwissenschaftlichung), der "Historizität historischer Tugenden" und schließlich den Grenzen des Wissens. Ein "Ausblick" greift abschließend noch einmal die eingangs gestellte Frage nach dem Profil und den Gegenstandsbereichen der Wissensgeschichte sowie ihrem Verhältnis und der Abgrenzung zu anderen Teildisziplinen bzw. Paradigmen wie der Kulturgeschichte, die Kritik an ihrem (vermeintlichen) Relativismus sowie ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft auf. Am Ende steht das Plädoyer für ein selbstbewussteres Auftreten und ein größeres öffentliches Engagement der Wissensgeschichte.
Insgesamt hat Marian Füssel ein ebenso informatives wie hochgradig informiertes Buch vorgelegt, das seiner ihm zugedachten Bestimmung als Einführung in das schwer zu fassende Thema "Wissen" in vollem Umfang gerecht wird. Trotz verständlicher und gut strukturierter Darstellung ist dieses allerdings selbst durchaus voraussetzungsreich und verlangt daher seinen Leser:innen die Bereitschaft ab, sich auf die mit den verschiedenen turns, die die Weiterentwicklung der Wissensgeschichte zur eigenständigen Teildisziplin in den letzten 20 oder 30 Jahren maßgeblich getrieben haben, verbundenen Denkansätze und Perspektiven einzulassen.
Anmerkung:
[1] Letzteres war jüngst auch Gegenstand der 15. Arbeitstagung Frühe Neuzeit im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, die unter dem Oberthema "WissensWelten" vom 19. bis 21. September 2024 in Gotha stattfand.
Markus Meumann