Rezension über:

Simon Portmann: Zwischen Wissensverbreitung und wirtschaftlichem Profit: Eine ‚Nachdrucker-Gesellschaft‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Buchwissenschaftliche Beiträge; Bd. 102), Wiesbaden: Harrassowitz 2022, X + 402 S., ISBN 978-3-447-11890-3, EUR 98,00
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Rezension von:
Philip Ajouri
Institut für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Philip Ajouri: Rezension von: Simon Portmann: Zwischen Wissensverbreitung und wirtschaftlichem Profit: Eine ‚Nachdrucker-Gesellschaft‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden: Harrassowitz 2022, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 11 [15.11.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/11/38562.html


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Simon Portmann: Zwischen Wissensverbreitung und wirtschaftlichem Profit: Eine ‚Nachdrucker-Gesellschaft‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

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Die Literaturwissenschaft konzentriert sich, völlig zurecht, für ihre Textarbeit auf autorisierte Ausgaben von Dichtern. Je besser man nachweisen kann, dass ein Text oder eine Werkausgabe unter Aufsicht des Autors hergestellt wurde, desto besser ist er oder sie für diese Zwecke geeignet. Was dagegen weniger oft berücksichtigt wird, ist die Frage, welche Bücher früher tatsächlich hergestellt, gelesen, benutzt oder gesammelt wurden. Hier kommen gerade für die Frühe Neuzeit die Nachdrucke ins Spiel, die gleichsam per definitionem nicht durch Autor und Originalverleger genehmigt wurden, sondern ohne deren Einwilligung und Kenntnis von einem anderen, oftmals auf diese Art des Buchdrucks spezialisierten Verlag publiziert wurden. Untersuchungen, die sich auf Nachdrucke konzentrieren, stellen andere Fragen oder sind doch zumindest für andere Fragearten anschlussfähig: Sie betreffen den Buchmarkt und das, was man zur Zeit der sozialwissenschaftlichen Literaturwissenschaft 'literarisches Leben' nannte, also tatsächliches Lektüreverhalten, Institutionen der Buchkultur, politische Rahmenbedingungen für den literarischen Markt und Diskurse über diese Art der Neuausgaben. Simon Portmann, Historiker und Verfasser der hier anzuzeigenden Dissertation, geht einigen dieser Fragen in Kapitel 4 seiner Arbeit nach, nachdem er zuvor erhebliche Grundlagenarbeit geleistet hat, indem ausgewählte Nachdruckunternehmen portraitiert werden (Kapitel 3).

Das Buch widmet sich auf breiter Quellenbasis dem Büchernachdruck im Alten Reich (ohne die Habsburgischen Erblande) und bezieht dabei Archivalien mit ein, die die Forschung bislang noch nicht berücksichtigt hatte. Drei Verlage stehen dabei im Vordergrund, nämlich Christoph Gottlieb Schmieder (Karlsruhe), Wilhelm Heinrich Schramm, Christian Gottlieb Frank und Johann Friedrich Balz (Tübingen) sowie Johann Georg Fleischhauer und sein Bruder Johann Jakob (Reutlingen).

In der Einleitung finden sich Hinweise zur Methode, - Portmann möchte sich an den 'Communication Circuits' von Robert Darnton [1] und den Nachfolgemodellen von Adams/Barker [2] und Bellingradt/Salman [3] orientieren. Auch der historischen Diskursanalyse und der Materialität der Kommunikation wird, beinahe etwas pflichtschuldig, Respekt gezollt. Die Arbeit zeigt dann auch, dass vor allem den Communication Circuits inhaltlich, wenn auch kaum begrifflich, Rechnung getragen wurde. So werden die Verlage selbst untersucht (production nach Adams/Barker, vgl. Kap. 3.1 bis 3.4), die Distribution wird erforscht (vgl. Kap. 4.3), die Rezeption und Überlieferung der Bücher wird ansatzweise rekonstruiert (reception, survival, vgl. Kap. 4.4) und die Rahmenbedingungen des Buchmarkts werden berücksichtigt (intellectual, religious, economic influences, z.B. Kap. 4.5 und 4.6). Damit ist die Arbeit durchaus buchwissenschaftlich orientiert, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Dennoch werden von dieser Arbeit wenig methodische Impulse ausgehen, was allerdings kaum als Kritik an der Dissertation gewertet werden kann. Es ist eher als Aufruf an die Community zu verstehen, Buch- und Literaturwissenschaft sowie datengetriebene Forschung, die etwa Bibliothekskataloge und VDs (Verzeichnisse der deutschsprachigen Drucke z.B. des 18. Jahrhunderts) auswertet, so zusammenzuführen, dass im Sinne von Mixed-Methods-Ansätzen auch in Bereichen der historischen Buchforschung noch innovativer gearbeitet werden kann.

Die große Leistung der vorliegenden Arbeit liegt in einem anderen Feld: in der extrem detailgenauen, historisch völlig adäquaten Rekonstruktion der Geschäftspraktiken von Nachdruckern, deren rechtlichen Rahmenbedingungen, der Diskurse, die sich rund um den Nachdruck entspannen und ansatzweise der Rezeption dieser Nachdrucke.

Das Kapitel 2 über die "Voraussetzungen für den Büchernachdruck" klärt über den Buchmarkt auf und erläutert dessen Zweiteilung in Reichsbuchhandel und sächsischen Buchhandel, ruft den Übergang von Tausch- zu Nettohandel in Erinnerung und behandelt die obrigkeitlichen Aufsichtsorgane des Pressewesens. Spezifischer werden dann die Territorien behandelt, in denen die besprochenen Nachdrucker ansässig waren, also die Residenzstadt Karlsruhe (Markgrafschaft Baden), die Reichsstadt Reutlingen und die Universitätsstadt Tübingen (Herzogtum Württemberg).

Das sehr detaillierte und aus den Archiven geschöpfte zentrale Kapitel 3 über die Nachdrucker zeigt dann, wie komplex das Phänomen des Büchernachdrucks in der Frühen Neuzeit war. Verschiedene und mitunter konfligierende Gerichtsbarkeiten von der Universität über die Reichsstadt und den Landesherrn bis zum Kaiser, der Kampf um Druckprivilegien, territoriale Zersplitterung, ökonomische Erwägungen, die Verbindungen von Nachdruckern untereinander etwa zum Zweck der Distribution oder der Auslastung von Druckereien, alles dies wird in großer Genauigkeit aus den Quellen rekonstruiert. Dabei steht eine besonders innovative Idee der Nachdrucker im Zentrum, nämlich die Vereinigung von Werken unterschiedlicher Dichter in einer Buchreihe mit derselben Ausstattung, z.B. in der Sammlung der besten prosaischen Schriftsteller und Dichter von Schmieder. Für solche Buchreihen konnte man auch Druckprivilegien erwerben, sodass der Ausdruck 'Raubdruck' zumindest historisch zu differenzieren ist.

Das vierte Kapitel über den Diskurs des Büchernachdrucks zeigt erneut, was die Studie ausmacht, vielleicht auch, wo ihre Grenze liegt. Die "Debatte" über den Büchernachdruck wird anhand einiger zentraler Schriften chronologisch vorgestellt, aber "Entwicklungslinien" (so der Titel des Kap. 4.1) werden eigentlich nicht nachgezeichnet, nicht einmal behauptet. Üblich wäre ja z.B. die Veränderung vom Recht des Verlegers hin zum Urheberrechtsgedanken im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, aber auch eigene Thesenbildungen oder eine feinere Aufgliederung des Diskurses wären willkommen gewesen.

Das Kapitel zur Materialität der Ausgaben (233-268) gleicht den Diskurs (als Redeordnung, nicht als Wirklichkeitsordnung verstanden) mit der Realität ab und spricht so über die Preise, das Papier, das Format und die Illustrationen der Nachdrucke. Dass in einem positivistischen Sinne Preise von Nachdrucken mit Originalausgaben verglichen und ebenso Papierpreise ermittelt werden, ist gut und unterstreicht den positivistischen Anspruch der Studie.

Der darauffolgende Abschnitt (269-287) behandelt die Distribution der Nachdrucke angesichts des kursächsischen Verbots von 1773, Nachdrucke auf der Leipziger Buchmesse zu handeln. Das Kapitel spricht über Pränumeration, Subskription und über Kommissionäre, allesamt auch aus dem 'normalen' Buchhandel bekannt, aber auch über Vertriebspraktiken, die der klassische Buchhandel verschmähte und die der oftmals innovative Nachdruckbuchhandel forcierte, wie etwa den Wanderbuchhandel, Vertriebsreisen von Nachdruckern wie Schmieder (wohl nach München und Wien) sowie über Bücherlotterien. Dass die Nachdrucke auch dem Ausland durchaus ein Bild davon gaben, was 'Deutsche Literatur' damals war, zeigt das Beispiel der Universitätsbibliothek Lund, wo man anlässlich einer neueingerichteten Professur 127 Bändchen von Schmieders Sammlung anschaffte (275). Portmann selbst zieht daraus aber kaum Konsequenzen, etwa für die Kanonisierung deutscher Dichter oder deren Rezeption im Ausland.

Das Kapitel über die Rezeption der Nachdrucke (287-313) kann am Anfang nur bekannte Fakten der Lesergeschichte wiederholen, verbunden mit der ebenfalls gängigen Warnung, dass über den Buchbesitz und die Lektürepraktiken gerade der unteren Stände wenig bekannt sei. Dass der Verfasser dennoch in den Bibliotheken bzw. Katalogen von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken Nachdrucke nachweisen konnte, macht das Kapitel wertvoll, doch hätte man sich hier einen systematischeren Ansatz gewünscht, der die wertvollen Funde nicht als Zufallsergebnisse erscheinen lässt.

Die "obrigkeitliche Nachdruckpolitik" (313-328) in Österreich, Bayern, Baden und Württemberg legte Wert auf die Wirtschaftskraft, die die Nachdrucker und die Papiermühlen entfalteten, auf die Arbeitsplätze und den positiven Beitrag zur Handelsbilanz; zudem wurde das Geld der Untertanen im Land gehalten; andere Aspekte wie die Aufklärung der Untertanen seien dagegen nebensächlich gewesen.

Simon Portmann hat ein aufschlussreiches und wichtiges Buch zum Verständnis eines wenig beachteten Teilsegments des Buchhandels im 18. Jahrhundert geschrieben. Die Stärke seiner Studie liegt im Quellenreichtum, in den Archivstudien, in der detaillierten Aufarbeitung von Geschäftspraktiken, Handelsverbindungen und insbesondere der rechtlichen Rahmenbedingungen. Mit vorschnellen Generalisierungen ist der Verfasser vorsichtig, die Anschlüsse an die Literaturwissenschaft, etwa über die Frage der Kanonisierung von Autoren, sucht er nicht. Sein Buch ist aber durchaus als Einladung zu verstehen, sich dem Phänomen der Nachdrucke wieder stärker zuzuwenden, sei es aus literaturwissenschaftlicher, rechtshistorischer, wirtschaftsgeschichtlicher oder natürlich buchwissenschaftlicher Perspektive.


Anmerkungen:

[1] Robert Darnton: What is the History of Books?, in: Daedalus 111 (1982), Nr. 3, 65-83, hier 68.

[2] Thomas Adams / Nicolas Barker: A New Model for the Study of the Book, in: A Potencie of Life. Books in Society. Clark Lectures 1986-1987, ed. by Nicholas Barker, London 1993, 5-43, hier 14.

[3] Daniel Bellingradt / Jeroen Salman: Books and Book Histroy in Motion. Materiality, Sociality and Spatiality, in: Books in Motion in Early Modern Europe. Beyond Production, Circulation and Consumption, ed. by Daniel Bellingradt / Paul Nelles / Jeroen Salman, Cham 2017, 1-11.

Philip Ajouri