Rezension über:

Lena Haase: Strafverfolgungspraxis im Schein-Rechtsstaat des "Dritten Reiches". Zur Zusammenarbeit von Justiz- und Polizeibehörden unter nationalsozialistischer Herrschaft (= Gestapo - Herrschaft - Terror. Studien zum nationalsozialistischen Sicherheitsapparat; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, 652 S., 50 Farb-Abb., ISBN 978-3-412-52863-8, EUR 60,00
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Rezension von:
Thomas Köhler
Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Köhler: Rezension von: Lena Haase: Strafverfolgungspraxis im Schein-Rechtsstaat des "Dritten Reiches". Zur Zusammenarbeit von Justiz- und Polizeibehörden unter nationalsozialistischer Herrschaft, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/38407.html


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Lena Haase: Strafverfolgungspraxis im Schein-Rechtsstaat des "Dritten Reiches"

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Ein alltagsgeschichtlicher Blick auf das Spannungsverhältnis von Polizei und Justiz im nationalsozialistischen Deutschland ist erstaunlicherweise ein noch vergleichsweise schwach beleuchtetes Feld der breiten rechtshistorischen Forschung. Zahlreiche Studien setzten sich detailliert mit der Rechtsprechung von Sondergerichten als genuin nationalsozialistischer Gesetzgebung auseinander und rückten so besonders eine ideologisch begründete Strafverfolgungspraxis während des Zweiten Weltkriegs in den Mittelpunkt. Umgekehrt befasste sich die polizeihistorische Forschung - das gilt speziell für die Geheime Staatspolizei - mit deren Machtzuwachs und in dieser Logik mit der Schwächung der Rolle der Justiz im NS-Staat.

Lena Haases Studie zur Strafverfolgungspraxis, zugleich ihre 2022 an der Universität Trier verteidigte Dissertation, nimmt hingegen die Zusammenarbeit des Justiz- und Polizeiapparats in den Blick. In Anlehnung an den Begriff der "Ressortspannungen" (11) will sie das Verhältnis beider Institutionen im Alltag der Ermittlungs- und Hauptverfahren neu bestimmen. Man könnte also auch von einer Verflechtungsgeschichte sprechen. Dabei wählt sie mit dem damaligen Regierungsbezirk Trier ein regionales Untersuchungsfeld, was allerdings im Buchtitel keine Berücksichtigung findet. Dieser dezentrale Ansatz am Beispiel eines vermeintlich - geografisch wie politisch - randständigen Gebiets des Deutschen Reichs öffnet regionalgeschichtliche Alltagsperspektiven jenseits von urbanen Räumen. Zudem wechselt die Randposition des Regierungsbezirks Trier mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in eine (west-)europäische Zentrumsposition der nun grenzüberschreitenden nationalsozialistischen Machtpolitik.

Die Untersuchung ist in vier Hauptteile strukturiert und diese wiederum in 16 Unter- und weitere Subkapitel, was den Ursprung als universitäre Qualifizierungsarbeit durchscheinen lässt. Haases Sprachstil ist sachlich-nüchtern. Sie erläutert ihre Methodik und ihre Erkenntnisgewinne innerhalb der Kapitel sehr engmaschig. Zusätzlich ist am Ende der vier Hauptteile jeweils ein Zwischenfazit eingebaut, was der Lesbarkeit sehr zugute kommt.

Der erste Teil nimmt zunächst in der Perspektive einer longue durée Perspektive über etwa 150 Jahre sowohl das institutionelle Spannungsverhältnis als auch gemeinsame Reformbestrebungen der Zusammenarbeit zwischen Justiz und (Kriminal-)Polizei bis in den sich dynamisch radikalisierenden NS-Staatsapparat in den Fokus. Dass der politisch-ideologische Einfluss der Parteigliederungen auf diesen historisch gewachsenen Aushandlungsprozess schon 1933 wie ein Bruch und nicht nur eine Abweichung erscheint, zeigt die grundsätzliche Normverschiebung auf. Haase arbeitet besonders deutlich lokale und regionale Konkurrenzen, aber auch Allianzen in der Strafverfolgungspraxis heraus, so dass das übergreifende Muster eines NS-spezifischen Dualismus zwischen Staat und Partei aufgebrochen und im Sinne eines dynamischen, polykratischen Herrschaftsringens differenziert wird. Als Musterbeispiel dient die Analyse der deutschen Reaktionen auf den Luxemburger Generalstreik 1942. Durch die Konstituierung eines Standgerichtsverfahrens und die paritätische Besetzung mit Personen aus dem Gestapo- sowie aus dem Staatsanwalts- und Gerichtsapparat bewiesen beide Seiten gegenüber der NS-Führung ihre situationsspezifische "echt kameradschaftliche" (116) Einsatzbereitschaft.

Der zweite Teil konzentriert sich auf die Personengruppe der Juristen im NS-Staat und ihre Tätigkeitsfelder im Polizei- und Justizapparat. Insgesamt kann von einer deutlichen Aufwertung des "Juristenstands" (121) im 'Dritten Reich' gesprochen werden, obwohl in der NS-Propaganda und in Reden der NS-Führungsebene jener als zu formalistisch und unflexibel an den Pranger gestellt wurde. In der personalen Praxis aber besetzten Juristen monopolartig Schlüsselpositionen eben nicht nur in der Justiz, sondern auch in der Polizei. Haase arbeitet in diesem Teil ihrer Studie am wenigsten regionalgeschichtlich. Ihr dient das Kapitel argumentativ vorbereitend für die beiden nachfolgenden Teile, um die Verflechtungen des Juristenstands ebenso theoretisch einzuordnen wie Konkurrenzen.

So stehen im dritten Teil in vergleichender Perspektive die Institutionen und das Personal der Strafverfolgungsbehörden im Regierungsbezirk Trier im Mittelpunkt. Haase wählt hier einen kollektivbiografischen Zugang, um einen innerbehördlichen Einblick zu erhalten. Neben klassischen Untersuchungsparametern sind auch Kategorien wie Geschlecht oder Generation berücksichtigt. Besonders lesenswert ist das zehnte Kapitel über "Menschen in den Behörden", in dem die Autorin den generationell überwiegend jungen Behördenleitungen eine institutionenübergreifende Kollegialität und Identität attestiert, den jene als NS-spezifischen "Möglichkeitshorizont" (Michael Wildt) verstanden und als berufliche wie auch soziale Aufstiegsleiter nutzten.

Wie konkret der Arbeitsalltag dieser Gruppe von Menschen aussah, beleuchtet der vierte Teil, der den größten analytischen Erkenntnisgewinn liefert, indem je ein Deliktfeld für eine der drei in der Forschung etablierten Phasen des Regimes (1933-1935, 1936-1939, 1939-1945) in Bezug auf Interaktionen, Konkurrenzen und Handlungsräume des agierenden Personals hin untersucht wird. Für die Konsolidierungsphase sind dies Pass- und Grenzdelikte, für die Vorkriegszeit Hoch- und Landesverrat besonders gegen Kommunistinnen und Kommunisten, und für die Kriegsphase Straftaten im Zusammenhang mit dem Westwallbau, also vor allem Arbeitsverweigerungen im Rahmen von Zwangsarbeit.

Im Schlussteil wird wegen der regionalen Spezifika des Untersuchungsraums ein fünfphasiges Modell in Bezug auf die Strafverfolgungspraxis vorgeschlagen: Konsolidierung (1933-1936), Stabilisierung (bis Sommer 1940), Rationalisierung (bis Herbst 1942), Kooperation (bis Herbst 1944) und Entdifferenzierung (bis Frühjahr 1945). Ob sich dieses Phasenmodell durchsetzen kann, beziehungsweise auf andere geografische oder strukturelle Untersuchungen übertragen lässt, muss an dieser Stelle offenbleiben. Bei der Frage, ob der NS-Staat ein "Unrechtsstaat" oder "Schein-Rechtsstaat" war oder "Unrecht durch Recht" ausgeübt wurde, positioniert sich Haase, indem sie die "Ausbootung der ordentlichen Justiz" als "unerreichtes Ziel" (572) der NS-Führung postuliert. Stattdessen habe zunächst eine Stärkung des Juristenstandes im Polizeiapparat stattgefunden, wodurch das Verhältnis von Recht und Terror neu definiert worden sei.

Lena Haases Verdienst ist es, die Bedeutung und Dynamiken des Rechts wie der das Recht auslegenden Juristen für die Alltagspraxis nationalsozialistischer Verfolgung durch ihre regionalgeschichtliche Studie neu zu bewerten. Die Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden im Regierungsbezirk Trier wie auch personelle Kontinuitäten der im Mittelpunkt der Studie stehenden Juristen sind hingegen kein zentrales Thema der Arbeit, weil dies den Rahmen des Dissertationsprojektes deutlich überstiegen hätte. Die sehr lesenswerte Studie empfiehlt sich nicht nur für Forschende zur Polizei- und Rechtsgeschichte, sondern auch für alle, die dem spannungsgeladenen Verhältnis von Polizei und Justiz im Nationalsozialismus in einer alltagsgeschichtlichen Perspektive nachspüren wollen.

Thomas Köhler