Rezension über:

Thomas Moser: Körper & Objekte. Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2022, 424 S., 87 Farb-Abb., ISBN 978-3-7705-6757-7, EUR 69,00
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Rezension von:
Isabella Schnürle
Institut für Kunstgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Isabella Schnürle: Rezension von: Thomas Moser: Körper & Objekte. Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 2 [15.02.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/02/38024.html


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Thomas Moser: Körper & Objekte

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Die Wende zum 20. Jahrhundert markiert einen radikalen Wandel im Verständnis der Beziehungen zwischen Materialität, Körper und Wahrnehmung. Technologische, wissenschaftliche und künstlerische Entwicklungen stellten die traditionellen Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt in Frage und führten zu neuen Konzepten von Berührung, Kraft und Material. Berührung und physische Kräfte wurden in bislang ungekanntem Maße als epistemische, ästhetische und soziale Kategorien thematisiert. Das Taktile, lange marginalisiert, avancierte zu einem zentralen Gegenstand in Naturwissenschaften und Kunst.

Körper & Objekte: Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunst und Wissenschaft um 1900 von Thomas Moser widmet sich den komplexen Wechselbeziehungen und vielschichtigen Transformationen zwischen Körper und Objekt, wie sie in Kunst und Wissenschaft dieser Epoche sichtbar wurden. Er untersucht, wie der Tastsinn und die Wahrnehmung physischer Kräfte in wissenschaftlichen Diskursen, künstlerischen Darstellungen und der materiellen Kultur dieser Zeit verankert sind. Mit einer interdisziplinären Vorgehensweise verbindet das Werk kunsthistorische, wissenschaftshistorische und materialästhetische Ansätze und zeigt, wie Berührung nicht nur wahrgenommen, sondern auch inszeniert und reflektiert wurde.

Die Monografie gliedert sich in zwei Teile: Tastästhetik und Kraftästhetik. Während im ersten Teil die haptischen Qualitäten von Körper-Objekt-Beziehungen und deren künstlerische Inszenierung untersucht werden, beleuchtet der zweite Teil die Wahrnehmung physischer Kräfte, ihre ästhetische und epistemische Bedeutung. Die Argumentation basiert auf einer interdisziplinären Verknüpfung von kunsthistorischen, materialästhetischen und wissenschaftshistorischen Ansätzen, gestützt durch präzise Objektanalysen. Die sechs Kapitel bilden dabei eine überzeugende Gesamtdarstellung, die die kulturelle und epistemische Neudefinition von Körper und Objekt um 1900 präzise herausarbeitet.

Im ersten Kapitel thematisiert Moser auf Basis eines Türknaufs von Jules Lavirotte, wie taktile Qualitäten im Diskurs der Jahrhundertwende neu bewertet wurden. Lavirottes Architektur wird als Schnittstelle zwischen urbanem Raum und körperlicher Wahrnehmung verstanden. Die haptische Qualität seiner Arbeiten reflektiert eine urbane Sensibilität mit erotischen Untertönen. Das zweite Kapitel widmet sich der Rolle des "haptischen Vermögens" im Kunsthandwerk. Taktile Erfahrungen wurden gezielt in den Gestaltungsprozess integriert, um eine sinnliche Interaktion zwischen Werk und Betrachter zu fördern. Das Kapitel thematisiert daher das Spannungsfeld dieser multisensorischen Ästhetik aus physischer Materialpräsenz und künstlerischer Inszenierung, welche als zentral für die ästhetische Erfahrung um 1900 gilt. Ein Höhepunkt des Buches ist das dritte Kapitel, das die metaphorische und biologische Dimension der Tentakularität untersucht. Hier werden Kraken als Modellorganismen für nicht-lineare, vernetzte Sinneswahrnehmungen analysiert. Diese Meerestiere, deren hochentwickelte Tastorgane eine fluide und weniger anthropozentrische Sicht auf Körperlichkeit ermöglichen, symbolisieren die Auflösung starrer Subjekt-Objekt-Grenzen. Die Analyse zeigt, wie Tentakularität in kunsthandwerklichen und literarischen Kontexten verarbeitet wurde, um die vernetzte Dynamik von Berührung zu thematisieren.

Das vierte Kapitel beleuchtet Werke von Rupert Carabin, die durch betonte Materialität und physische Präsenz bestechen. Der Begriff der "werkkonstitutiven Schwere" beschreibt, wie Carabin physische Kräfte wie Schwerkraft und Widerstand ästhetisch inszeniert, wodurch seine Objekte Materialwiderstand und visuelle Dynamik verbinden. Das fünfte Kapitel fokussiert den Anatomen und Künstler Paul Richer, dessen plastische Darstellungen wissenschaftliche Präzision mit künstlerischem Ausdruck vereinen. Richer nutzte sein anatomisches Wissen, um physiologische Prozesse visuell zu vermitteln und die Dynamik der menschlichen Form erlebbar zu machen. Diese fruchtbare Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Kunst zeigt, wie Richer die plastische Kunst als Medium wissenschaftlicher Erkenntnis positionierte. Das abschließende Kapitel widmet sich den Performances von Loïe Fuller, deren Tanzkunst die Verbindung von Körperkraft, Bewegung und technischen Inszenierungen neu definierte. Beleuchtung und Stoffmanipulation transformierten ihren Körper in eine dynamische ästhetische Form, womit das Kapitel die Bedeutung technischer Fortschritte für die Ästhetik und Wahrnehmung moderner Körperinszenierungen verdeutlicht.

Die Argumentation des Buches ist präzise, methodisch stringent und reich an fundierter Quellenarbeit. Es gelingt, historische Diskurse mit detaillierten Objektanalysen zu verknüpfen und dabei die vielfältigen Dimensionen der Berührung als epistemische, ästhetische und soziale Kategorie herauszuarbeiten. Die thematische Gliederung und der interdisziplinäre Ansatz ermöglichen eine vielschichtige Betrachtung der Körper-Objekt-Beziehungen in einer Epoche, die durch technologische Innovationen, wissenschaftliche Paradigmenwechsel und künstlerische Experimente geprägt war. Dabei wird aufgezeigt, wie der Tastsinn in der Sinnesforschung um 1900 nicht länger als bloße Ergänzung des Sehens betrachtet, sondern als eine eigenständige epistemische Dimension verstanden wird. Die Analyse zeigt, dass Berührung nicht nur als individuelles Erlebnis, sondern als interaktive Beziehung zwischen Körper und Objekt interpretiert wurde und Haptik als aktiver Sinn die Beziehung zwischen Körper und Objekt auf neue Weise strukturierte.

Die Stärken des Buches liegen in seiner interdisziplinären Verknüpfung, der innovativen Themenwahl sowie der detaillierten Analyse von Körper-Objekt-Beziehungen, wobei die Integration von biologischen Analogien und ästhetischen Konzepten dem Werk eine besondere Originalität verleihen. Die Einbindung weiblicher Perspektiven bleibt im Hintergrund, der Autor adressiert diesen Punkt jedoch zu Beginn, in dem er ausführlich auf die historischen Rollenbilder und die strukturellen Gegebenheiten um 1900 eingeht.

Im wissenschaftlichen Diskurs positioniert sich die Monografie an der Schnittstelle von Kunst-, Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Sie ergänzt etablierte Ansätze zur Materialitäts- und Sinnesforschung, etwa die Arbeiten von Jonathan Crary, durch die Verknüpfung biologischer und künstlerischer Perspektiven und verweist auf den seit den 1980er Jahren fokussierten sensual turn. Besonders die Analyse der Tentakularität trägt zu posthumanistischen Debatten bei, indem sie eine nicht-anthropozentrische Perspektive auf Berührung und Wahrnehmung eröffnet.

Zusammenfasend ist die Monografie ein herausragender Beitrag zur interdisziplinären Forschung. Mit dem Fokus auf Berührung, Kraft und Material leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Kunst- und Kulturgeschichte sowie zur Materialitätsforschung. Sie bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen in Bereichen der Technikgeschichte, der Epistemologie des Körpers sowie der Posthumanismus-Debatte und trägt wesentlich zur aktuellen Diskussion über die Rolle der Sinne und der Materialität in der Moderne bei.

Isabella Schnürle