Rezension über:

Anja Lempges / Judith König (Hgg.): Die ganze Welt auf Pergament. Die Chorbücher aus dem Mainzer Karmeliterkloster (= Publikationen des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums Mainz; Bd. 16), Regensburg: Schnell & Steiner 2024, 206 S., 249 Farb-, 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-3913-2, EUR 35,00
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Rezension von:
Annelen Ottermann
Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Annelen Ottermann: Rezension von: Anja Lempges / Judith König (Hgg.): Die ganze Welt auf Pergament. Die Chorbücher aus dem Mainzer Karmeliterkloster, Regensburg: Schnell & Steiner 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 4 [15.04.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/04/39745.html


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Anja Lempges / Judith König (Hgg.): Die ganze Welt auf Pergament

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Endlich: der große Auftritt und die gebührende Aufmerksamkeit für sechs prachtvolle Schwergewichte, denn allzu lange fristeten sie ein Schattendasein, die Karmeliterchorbücher (nachfolgend: KChB) aus dem Spätmittelalter! Den Augen der Museumsbesucher enthoben, lagerten die imposanten Bände - ein fünfbändiges Antiphonar und ein Graduale - von außergewöhnlichem Ausmaß und Gewicht in der Paramentenstube des Mainzer Dommuseums.

Die um 1430 entstandenen liturgischen Prachthandschriften gehörten zur unverzichtbaren Grundausstattung im Mainzer Karmel; sie waren nie Bestandteil der Klosterbibliothek, wie deren Rekonstruktion eindeutig ergeben hat [1], sondern wurden gesondert für den Einsatz in Messe und Stundengebet aufbewahrt. Auch bei der Aufhebung des Konvents 1802 erfuhren sie eine Sonderbehandlung, wurden sie doch nicht der universitären Bibliothek, sondern dem Mainzer Dom übergeben und 1925 mit Eröffnung des Dommuseums dort untergebracht.

2024/25 gilt es in Mainz gleich zwei Jubiläen zu feiern, liegen doch Museumsgründung und Wiederansiedlung des Karmeliterordens 100 Jahre zurück. Den KChB hier eine Klammerfunktion zwischen beiden Erinnerungsorten zuzusprechen, ist sicher nicht verfehlt, und so war es nur naheliegend, ihnen zum Doppeljubiläum die längst überfällige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Das 2024 begonnene Projekt der DFG zur Digitalisierung der 462 mittelalterlichen Handschriften aus Mainz, Speyer und Worms [2] bot die historische Chance, die KChB online zugänglich zu machen. Im Hinblick auf die geplanten Ereignisse der beiden Jubiläumsjahre wurden die zuvor restauratorisch behandelten sechs Handschriften vorgezogen und in der Pilotphase des Projekts bearbeitet. Inzwischen sind sie mit weiteren fünf Codices des Dom- und Diözesanmuseums (DDMZ) digitalisiert. [3]

Bis März 2025 präsentierte das DDMZ die nun also restaurierten und digitalisierten Chorbücher in einer Kabinettausstellung unter dem Titel "Die ganze Welt auf Pergament". Für den dazu vorgelegten Begleitband zeichnen Anja Lempges und Judith König als Herausgeberinnen verantwortlich. Der Katalog bereichert die inzwischen stattliche Reihe von Ausstellungs- und Begleitkatalogen des Museums, die durchweg durch Gesamterscheinungsbild, Einband, Gestaltung und Illustrationen - ein verlässliches Aushängeschild des Verlags Schnell & Steiner - überzeugen.

Der Faszination des hier erstmals in dieser Fülle und Präzision üppig, fast schon verschwenderisch vorgelegten Bildmaterials kann sich niemand entziehen. Marcel Schawe, er gilt als "einer der renommiertesten Kunstphotographen" der Region (11), verdient hier allergrößtes Lob.

Anja Lempges, stellvertretende Direktorin des DDMZ, führt in den Katalogband ein, gibt historische Hinweise, skizziert die Restaurierungs- und Digitalisierungsprojekte und geht auf die begleitenden Aktionen in der Ausstellung ein, die das Gesehene mit allen Sinnen erfahrbar machen sollen. Stilistisch rutscht sie vereinzelt ins Journalistische ab, etwa, wenn sie die KChB als "altersweise Bücher" und "Zauberbücher" tituliert. (13) Auf der anderen Seite schreckt sie nicht davor zurück, leicht pathetisch zu formulieren, mit den Chorbüchern sei etwas gelungen, "das wir uns in unserer hochkomplexen Gegenwart so sehr ersehnen, nämlich eine Gesamtschau auf die Welt, die dem Wunsch Ausdruck verleiht, dass nicht das Chaos, sondern ein tieferer Sinn sie zusammenhält." (198)

Kapitel II ist dem Mainzer Karmel gewidmet, hier kommen zwei Ordensbrüder zu Wort. Pater Stephan Panzer, ausgewiesen durch vielfältige wissenschaftliche Forschungen zur Geschichte seines Ordens, stellt die Geschichte der Karmeliten in Mainz seit ihrer Ansiedlung 1285 über die Aufhebung 1802 bis zur Wiederbegründung des Konvents 1825 in Streiflichtern vor. In seinem mit informativem Bildmaterial angereicherten Beitrag konstatiert Panzer so knapp wie zutreffend "Die Karmeliter gehören zu Mainz." Dass dies uneingeschränkt bis heute gilt, stellt Pater Joseph Kemper mit seiner lebendigen Skizze unter Beweis, in der er eindrückliche Einblicke in Lebensalltag und seelsorgerliches Wirken seines heutigen Mainzer Konvents gibt.

Kapitel III nimmt quantitativ und inhaltlich eine Sonderrolle ein: Judith König, Mitherausgeberin und Hauptautorin, widmet sich auf 120 Seiten den sechs Handschriften. Dabei stellt sie sie als "Weggefährten über Jahrhunderte" in ihrer Funktion im klösterlichen Leben vor, beschreibt sie kodikologisch und kunsthistorisch und informiert ergänzend über die Buchherstellung im Mittelalter. König legte 2006 ihre kunsthistorische Dissertation vor, in der sie die KChB erstmals umfänglich analysierte und zu neuen Erkenntnissen gelangte. [4] Ein Vergleich mit ihrer digital vorliegenden Doktorarbeit zeigt über weite Strecken Parallelitäten bis hin zu wörtlichen Übernahmen. Um den akademischen Grundton etwas aufzulockern, erhalten die Unterabschnitte populär wirkende Überschriften. Der Fußnotenapparat aus der Dissertation wurde ebenfalls passagenweise beibehalten, wobei vielerorts eine konsequentere Überarbeitung vermisst wird: Unangenehm fallen mehrfach falsche Seitenangaben bei Literatur- und Abbildungserweisungen auf, übernommene Danksagungen an inzwischen verstorbene Wissenschaftler irritieren. Neuere Forschungsliteratur wurde in ihrem Text weitgehend berücksichtigt, doch nicht immer wurden die darin formulierten Ansätze zur Kenntnis genommen. [5]

Voraussetzung für die Digitalisierung der KChB war ihre konservatorische Instandsetzung, befanden sie sich doch durch unsachgemäße Lagerung, Kriegsschäden und intensiven Gebrauch in schlechtem Zustand. Mit der Restaurierung wurde Johannes Schrempf (Esslingen) beauftragt; sein kurzer Werkstattbericht am Ende des dritten Kapitels vermittelt davon einen gut bebilderten Eindruck und macht mit grundsätzlichen Überlegungen bei heiklen Eingriffen dieser Art vertraut.

Besonders verdienstvolles Forschungspotential steckt in Kapitel IV, das die KChB aus der isolierten Betrachtung herauslöst und sie in den kunsthistorischen Kontext des Spätmittelalters am Mittelrhein stellt. Hier präsentiert Christoph Winterer mit zwei Handschriften des DDMZ bislang kaum bekannte "liturgische Buchgeschwister" (164), die ebenfalls im Rahmen des DFG-Projekts digitalisiert wurden; Judith König macht mit dem Mainzer Friedebuch aus dem hiesigen Stadtarchiv bekannt und zeigt stilistische Parallelen zu den KChB sowie Hinweise zu deren Datierung und Lokalisierung auf. Cornelia Schneider verfolgt die Spuren des Büchermarders Franz Josef Bodmann, auf den vermutlich auch die vielen Fehlstellen in den KChB zurückgehen, in der wechselvollen Geschichte einer Handschrift der Mainzer Stadtbibliothek. Schließlich stellen Winfried Wilhelmy und Anja Lempges den "Wilde-Leute-Teppich" des DDMZ vor, sensibilisieren für Beziehungen zwischen seiner Motivik und den Miniaturen in den KChB.

Den Abschluss bildet Kapitel V "Sichern und sichtbar machen - Kulturgut digital". Zu Wort kommen hier die konzeptionell und organisatorisch für die Digitalisierung der KChB an der UB Mainz Verantwortlichen, Christian George und Klaus T. Weber. Sie informieren über den Zuschnitt des DFG-Projekts und dessen historische Begründung ebenso wie über technische Abläufe. Kerstin Albers, Managerin des Bundesförderprojekts "Karmeltradition Mainz"; bildet mit ihrem interessanten Beitrag zur Einbettung der Digitalisierung in den größeren kultur- und ordensgeschichtlichen Rahmen ein wichtiges Scharnier zwischen beiden Jubiläumsanlässen. Den Abschluss bildet ein hilfreiches Glossar vor allem kunsthistorischer, aber auch theologischer Fachbegriffe.

Es gilt, einige Schwächen der Publikation zu konstatieren. So wurde das dem Glossar vorausgehende Literaturverzeichnis nicht mit der nötigen Sorgfalt schlussredigiert, andernfalls hätte das Fehlen sämtlicher im Beitrag von Winterer aufgeführter Titel auffallen müssen.

"Allen Menschen recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann", der Volksmund weiß es. Dennoch gibt es Stellschrauben beim Herausgeben von Büchern, und dazu gehört insbesondere bei Sammelbänden eine klare Zielgruppendefinition, ohne die keine Homogenität zu erreichen ist. Das wurde von der Direktion hier augenscheinlich nicht ernsthaft genug bedacht, und so ist, auch der Berücksichtigung des doppelten Jubiläumsanlasses geschuldet, konzeptionell und sprachlich-stilistisch zu viel Heterogenes zwischen die Buchdeckel des überaus schön gestalteten Bandes gepresst worden. Sowohl die kunsthistorisch spezialisierte als auch die ganz allgemein interessierte Leserschaft lässt dies u. U. etwas ratlos und unzufrieden darin herumirren, sofern sie mehr will, als sich an den exquisiten Abbildungen zu erfreuen.

Sinnvoller wäre es gewesen, für die grundlegend überarbeitete Dissertation von König eine eigene Monographie als Teilband I der Begleitpublikation vorzusehen, damit diese wegweisende kunsthistorische Arbeit nach fast 20 Jahren auch in einer adäquaten Druckversion vorliegt. Alle übrigen Beiträge hätte man als Teilband II wie ursprünglich geplant, in einem Heft der Forschungsbeiträge des DDMZ veröffentlichen können.

Summa ungeachtet aller Einwände: Wieder einmal ist dem DDMZ mit dem vorliegenden Begleitband zu seinen ambitionierten Ausstellungen etwas Großes gelungen; ein inhaltlicher und gestalterischer Meilenstein, zu dem den Verantwortlichen im Museum und dem Verlag zu gratulieren ist.


Anmerkungen:

[1] Annelen Ottermann: Die Mainzer Karmelitenbibliothek. Spurensuche - Spurensicherung - Spurendeutung (Berliner Arbeiten zur Bibliotheks- und Informationswissenschaft; 27), Berlin 22018.

[2] https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/532733451 (aufgerufen 16.3.2025).

[3] Gesamtprojekt: https://gutenberg-capture.ub.uni-mainz.de/mittelalterlichehand; Handschriften des DDMZ: https://gutenberg-capture.ub.uni-mainz.de/provenienzen/nav/classification/1018038 (aufgerufen 16.3.2025).

[4] Judith König: Die Mainzer Karmeliter-Chorbücher. Studien zur mittelrheinischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts, Univ. Diss., Mainz 2006. http://doi.org/10.25358/openscience-3142 (aufgerufen 16.3.2025).

[5] Königs Inanspruchnahme zweier Hände für die Stiftervermerke in Band 3 und 1 des Antiphonars wurde jüngst durch die Hypothese der Gleichhändigkeit in Frage gestellt (Ottermann, wie Anm. 1, 266f.). Diese Diskussion blieb jedoch gänzlich unberücksichtigt.

Annelen Ottermann