Rezension über:

Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1954. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 320 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31065-6, EUR 30,00
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Rezension von:
Andreas Malycha
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Malycha: Rezension von: Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1954. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/39677.html


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Mark Schiefer / Martin Stief (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1954

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Der vorliegende Band gehört zur Edition der Berichte der Zentralen Informationsgruppe (ZIG) beziehungsweise der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) für die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die von Mark Schiefer und Martin Stief bearbeiteten Berichte aus dem Jahre 1954 stehen am Beginn einer regelmäßigen Berichtsserie an die Parteiführung. Sie lassen deutlich die Nachwirkungen des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 erkennen. Die SED-Führung sah sich als Folge der offenen Konfrontation zwischen Volk und Staatspartei zu Korrekturen ihrer Politik gezwungen, die bis zum Ende der DDR wirkten. Sozialpolitik entwickelte sich fortan zu einem prägenden Strukturelement der SED-Politik. Zugleich wurde die Repression gegen tatsächliche und vermeintliche politische Gegner weiter verschärft; dazu gehörte auch eine Neuordnung des Sicherheitsapparats.

Die Berichte des Jahres 1954 sollten den Bearbeitern zufolge als "die tägliche Stimmungsschau einer Art Krisenberichterstattung" fungieren und waren "als Frühwarnsystem für das Erkennen herrschaftsgefährdender Grundstimmungen gedacht" (44). In der Amtszeit von Ernst Wollweber als Chef der Staatssicherheit thematisierten die Berichte daher insbesondere Stimmungen in der Bevölkerung und deren Reaktion auf bestimmte politische Entscheidungen oder politische Ereignisse. So nahm der Informationsdienst vom 7. Oktober 1954 die bevorstehende Volkskammerwahl zum Anlass, auch über "negative Diskussionen" im Vorfeld der Wahlen zu informieren. Beispielsweise hätten Arbeiter aus verschiedenen Betrieben echte Wahlen von miteinander konkurrierenden Parteien statt der "Wahl" der Einheitsliste der Nationalen Front gefordert. Es seien vorwiegend "bürgerliche Elemente sowie Mitglieder und Funktionäre der bürgerlichen Parteien, die sich in abfälliger Form über die Wahl äußern oder sich gegen die gemeinsame Liste aussprechen." (247) In dieser Einschätzung spiegelt sich das vorherrschende Muster der Stasi-Berichte wider: Während die Mehrheit der "Werktätigen" die Politik der SED begrüße, gebe es immer wieder kritische Stimmen, die das MfS auf die Propaganda westlicher Medien sowie "organisierte Feindtätigkeit" zurückführte.

Mit ihrem Aufbau in sechs Themenblöcke unterschieden sich die Berichte des Jahres 1954 von den späteren Berichten in den 1960er und 1970er Jahren. Priorität hatte dabei die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft. Zu diesen Schwerpunkten wurden Missstände, Planrückstände oder Materialengpässe in den verschiedensten Betrieben, aber auch offen geäußerte Unzufriedenheit der Belegschaften über niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen detailliert aufgelistet. Diese Lageeinschätzungen, die von den MfS-Informationsgruppen der Bezirke fast täglich an die Zentrale gesandt wurden, spiegeln das damalige Selbstverständnis der Staatssicherheit wider, die SED-Führung rechtzeitig über offensichtliche gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu informieren. Denn der Schock über die Rebellion der Arbeiter saß noch tief. Einen festen Bestandteil der Berichte bildeten darüber hinaus Hinweise auf "organisierte Feindtätigkeit". Hier wurden in der Regel Aktionen des Ostbüros der SPD in Verbindung mit der Verbreitung von antikommunistischem Propagandamaterial geschildert.

Die Berichte beinhalten Aussagen zu den unterschiedlichsten Themenfeldern. Schiefer und Stief weisen darauf hin, dass den geschilderten Vorgängen, die oft in Form von Aufzählungen übermittelt wurden, jeglicher analytischer Charakter fehlt. Das führen sie auf die Unbeholfenheit und geringe Professionalität der Berichterstatter zurück. Ein systematisches Berichtswesen an externe Empfänger befand sich noch in der Probephase. Die Mitteilungen aus den MfS-Bezirksverwaltungen ermöglichen aber dennoch selektive Einblicke in das Stimmungsbild in der DDR, die authentischer sind als die Berichte der späteren Jahre. Sie zeigen, wie groß die Unzufriedenheit über die Versorgungslage in der Bevölkerung trotz partieller Erleichterungen geblieben war.

Die Frage nach den externen Adressaten können die Bearbeiter aufgrund lückenhafter Quellen nicht genau beantworten. Sie gehen jedoch von einem umfangreichen Adressatenkreis aus, zu dem auch die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen gehörten. Eine eindeutige Regelung gab es offenbar noch nicht. Zumeist erhielten Politbüro- und Sekretariatsmitglieder, aber auch Regierungsvertreter nur die für ihren jeweiligen Verantwortungsbereich relevanten Informationen. Der politische Einfluss der Berichte war vermutlich eher begrenzt.

Festzuhalten bleibt, dass sich aus den sachkundig bearbeiteten Dokumenten realitätsnahe Lagebilder des Jahres 1954 herauslesen lassen. Trotz einer ideologisch bedingten Grundhaltung vermitteln die Berichte auch gerade wegen ihrer mangelnden Professionalität ein differenziertes Bild von einer vielschichtigen politischen Stimmung in der Bevölkerung. Eine ideologische und politische Einordnung und Bewertungen der Vorgänge wurden erst in späteren Jahren zur Routine. Bezweifelt werden darf allerdings, dass die Partei- und Staatsführung konkreten Nutzen aus den geschilderten Vorgängen ziehen konnte. Für die Forschung, resümieren Schiefer und Stief zu Recht, bilden die Informationsberichte des Jahres 1954 eine Quelle von besonderem Wert.

Andreas Malycha