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Branko Milanović: Visionen der Ungleichheit. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2024, 443 S., ISBN 978-3-518-58817-8, EUR 34,00
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Rezension von:
Daniel Burghardt
Innsbruck
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Daniel Burghardt: Rezension von: Branko Milanović: Visionen der Ungleichheit. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2024, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 5 [15.05.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/05/40255.html


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Branko Milanović: Visionen der Ungleichheit

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Der ehemalige Weltbankökonom Branko Milanović ist zweifelsohne einer der elaboriertesten Forscher ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse. Bedeutsam wurde insbesondere die von ihm maßgeblich entwickelte Elefantenkurve, die gegen die Interpretation und Intention Milanovićs, zum Symbol des Aufstiegs des globalen Südens wurde. Die für einen Zeitraum von 1988 bis 2008 diagnostizierte relative Verschiebung der Verteilungspositionen zugunsten einer globalen Mittelschicht wurde zum Stichwortgeber für Konvergenztheoretiker, die daraus eine gleichsam automatische Tendenz zur Abnahme der globalen sozialen Ungleichheit folgerten.

In der kürzlich bei Suhrkamp erschienenen Übersetzung seines neuen Buches "Visionen der Ungleichheit" räumt Milanović mit diesem Missverständnis gründlich auf und geht in der Geschichte der Ungleichheitsforschung bis zur Französischen Revolution zurück. Ausgehend von dem Physiokraten François Quesnay zeichnet Milanović in sieben Kapiteln verschiedene Theorien der (Einkommens)Ungleichheit anhand ökonomischer "Klassiker" von Adam Smith und David Ricardo über Karl Marx bis hin zu Vilfredo Pareto und Simon Kuznets nach.

Dieses durchaus voraussetzungsreiche Unternehmen unterliegt einigen, im Vorwort ausgeführten, (Selbst)Beschränkungen. So ignoriert der Fokus auf die Einkommen etwa den Hauptteil der ökonomischen Schriften Karl Marx', die sich im Wesentlichen auf werttheoretischen Fragestellungen konzentrieren. Auch die Prämisse, die Perspektive des jeweiligen Autors einzunehmen, unterschlägt mitunter deren politische Fehlannahmen, was sich insbesondere bei Pareto negativ bemerkbar macht. Tatsächlich erweist sich dessen antisozialistisch motivierter Kurzschluss zwischen Einkommensverteilung und physiologischen Merkmalen ökonomisch als anschlussfähig an den Faschismus. Inwiefern dessen Potenzgesetz, auch bekannt als Pareto-Prinzip, davon betroffen ist, wäre eine eigene Auseinandersetzung wert. Die Ausweitung der Annahmen zur Einkommensverteilung auf Phänomenbereiche wie Eheschließungen, Workflow oder Follower auf Social-Media ist von Pareto allerdings nicht gedeckt. Umgekehrt erleichtert der chronologische Aufbau des Buches die Lesbarkeit. Auch die selbst verordnete Indifferenz gegenüber den normativen Annahmen der Denker erweist sich mitunter als produktiv. So erfahren wir, dass Smith den Eigennutz zwar als grundlegend für den sprichwörtlichen Wohlstand der Nationen betrachtete, indes nicht mit beißendem Spott gegenüber der herrschenden Klasse seiner Zeit sparte. Das Eigeninteresse als angeblich anthropologische Eigenschaft ließ Smith zu einem einflussreichen Vordenker neoliberaler Ökonomen werden. Umgekehrt galt für denselben Smith, dass in entwickelten Gesellschaften die Löhne hoch und die Kapitalerträge niedrig sein müssen; ein Umstand, der ihn für Milanović durchaus anschlussfähig für eine linke Ökonomiekritik macht. Aufschlussreich ist diese Analyse nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Schattendaseins der Ungleichheitsforschung im Kalten Krieg, wie das letzte Kapitel instruktiv zeigt: Während der Sozialismus für sich beanspruchte die Klassengegensätze überwunden zu haben und jeder unliebsame Abgleich der Planwirtschaft mit der Realität unterbunden wurde, sah sich der kapitalistische Westen ebenfalls nicht veranlasst, die überlegene propagierte Markwirtschaft mit den inhärenten Klassengrenzen zu konfrontieren.

Für Milanović muss jede brauchbare Ungleichheitsstudie drei zentrale Bestandteile aufweisen: Sie benötigt erstens ein grundlegendes Narrativ, das die Dynamik der Ungleichverteilung mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen bestimmt, zweitens eine fundierte ökonomische Theorie und schließlich drittens eine gesättigte empirische Datenbasis. Während die Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts die Ungleichheit im Wesentlichen als ein Ergebnis der Klassengesellschaft auffassten und entsprechende Theorien entwickelten, fehlte ihnen das nach heutigen Maßstäben erforderliche belastbare empirische Material. Im 20. Jahrhundert betrachteten Pareto und Kuznet die Einkommensungleichheit hingegen als einen Gegensatz zwischen Elite und Volk (Pareto) bzw. zwischen städtischer Industrie und Landwirtschaft (Kuznet), was die theoretische Grundlage verschlankte, während ein umfassendes Narrativ gleichwohl beibehalten wurde. Gegenwärtig, so Milanovićs kritische Diagnose, ist das Feld der Ungleichheitsforschung durch einen reinen Empirismus gekennzeichnet, dem jeder Bezug zu politischen Analysen fehlt. Dabei stünden die Zeichen der Zeit dafür eigentlich recht günstig, wie das Nachwort anhand der viel rezipierten Studie von Thomas Piketty verdeutlicht. Denn mittlerweile können langfristige Tendenzen der Ungleichheit auch empirisch gut nachgewiesen und obendrein global kontextualisiert werden. Piketty wurde vor allem deshalb so stark diskutiert, weil er imstande war, empirisch nachzuweisen, dass der kapitalistische Verwertungsprozess langfristig zum Zusammenbruch führt. Hier erkennt Milanović Parallelen zum umstrittenen marxschen Theorem des tendenziellen Falls der Profitrate, das in dem Buch ausführlich diskutiert wird. Marx und Piketty sind demnach entgegengesetzte Verbündete, insofern beide belegen, dass das kapitalistische Produktionssystem an der Anwendung seiner eigenen Regeln und innewohnenden Gesetze scheitert: Bei Marx verringert sich die Profitrate durch die Erhöhung der organischen Zusammensetzung des Kapitals, indem menschliche Arbeitskraft sukzessive durch Maschinen ersetzt wird, wohingegen sich bei Piketty die Vermögen des Kapitals konzentrieren. Jeweils lösen allein externe Ereignisse und Eingriffe wie Krisen, Kriege oder aber die Vergesellschaftung der Produktionsmittel (Marx) bzw., als reformistische Variante, höhere Industrielöhne und eine progressive Vermögenssteuer (Piketty) das hausgemachte Dilemma.

Milanovićs Buch ist ein Plädoyer für eine vertiefte ökonomische Auseinandersetzung mit den herrschenden Ungleichheitsverhältnissen. Dieser Anspruch stellt kein einfaches Unterfangen dar und demgemäß liest sich das Buch bisweilen mühsam. Dies liegt nicht zuletzt an den komplexen Statistiken und Grafiken, die Milanović zahlreich aufführt. Dennoch ist die Lektüre so gewinnbringend wie notwendig - vor allem, wenn man die düstere Prognose ernst nimmt, wonach eine neue Elite heranwächst, die beträchtliches Kapital besitzt und horrende Arbeitseinkommen erzielt; Milanović nennt dies eine Homoplutie. Zieht man überdies in Betracht, dass zu dieser Elite ein rechtsextremer Industrieller wie Elon Musk zählt, der unter dem neuen, alten amerikanischen Präsidenten Trump seine politische Macht ausbaut, könnten auf die Visionen der Ungleichheit Varianten des Faschismus folgen.

Daniel Burghardt