Rezension über:

Inge Herold / Johan Holten (Hgg.): Die Neue Sachlichkeit / The New Objectivity. Ein Jahrhundertjubiläum / A Centennial, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2025, 408 S., 350 Farb-Abb., ISBN 978-3-422-80250-6, EUR 56,00
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Rezension von:
Sonja Palade
Frankfurt/M.
Redaktionelle Betreuung:
Franziska Lampe
Empfohlene Zitierweise:
Sonja Palade: Rezension von: Inge Herold / Johan Holten (Hgg.): Die Neue Sachlichkeit / The New Objectivity. Ein Jahrhundertjubiläum / A Centennial, Berlin: Deutscher Kunstverlag 2025, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 9 [15.09.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/09/40104.html


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Inge Herold / Johan Holten (Hgg.): Die Neue Sachlichkeit / The New Objectivity

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Anlässlich ihres 100-jährigen Jubiläums lässt die Kunsthalle Mannheim ihre programmatische Ausstellung Die Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus wieder aufleben. Mit der Ausstellung Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum, die bis Anfang März dieses Jahres in der Kunsthalle zu sehen war, widmete sich Kuratorin Inge Herold der 1925 vom damaligen Direktor Gustav Friedrich Hartlaub kuratierten Überblicksschau zu den Entwicklungstendenzen gegenständlicher Malerei nach dem Ersten Weltkrieg. Im Mittelpunkt des Projekts stand der Anspruch einer kritischen Bewertung von "Hartlaubs kuratorische[r] Leistung" aus gegenwärtiger Perspektive, die aktuelle Forschungsergebnisse einfließen lässt und seine Auswahl um "Vergessenes, Übersehenes oder auch Ausgeschlossenes" ergänzt (11).

Zur Ausstellung ist eine Publikation erschienen, die neben einer Einführung von Inge Herold acht vertiefende Textbeiträge weiterer Autor*innen und einen umfangreichen Bildteil umfasst. Sie folgt einer thematischen Struktur, die die klassischen Sujets und zeittypischen Diskurse der Neuen Sachlichkeit vorstellt und sich unter anderem ihrem Menschen- und Körperbild, der Rolle der Frau, sowie Stadt-, Industrie- und Naturlandschaften widmet. Prägnante Kurztexte ergänzen den zeitgeschichtlichen Kontext und eine kunsthistorische Einordnung exemplarischer Exponate. Indem sie die für die Epoche konstitutiven Gegensätze immer wieder auslotet, skizziert die Publikation ein differenziertes Gesellschaftsbild, welches das vereinfachende Narrativ der "Goldenen Zwanziger" problematisiert und neusachliche Schlagwörter wie die Neue Frau in ihrem historischen Kontext verortet.

Den "Stars" (18) der Neuen Sachlichkeit Max Beckmann, Otto Dix und George Grosz, die bereits in Hartlaubs Ausstellung prominent vertreten waren, räumt der Katalog mit jeweils eigenen Kapiteln nach wie vor einen besonderen Stellenwert ein. Er überzeugt aber auch durch eine vielfältige Auswahl weniger bekannter Werke und bildet inhaltlich wie stilistisch eine große Bandbreite der Neuen Sachlichkeit ab. Ein Schwerpunkt der kritischen Überprüfung von Hartlaubs Auswahl liegt dabei auf der Ergänzung von Künstlerinnen der Zwischenkriegszeit, deren Werk in der rein männlich besetzten Ausstellung von 1925 vollständig fehlte. Malerinnen wie Lotte Laserstein oder Anita Rée, die lange Zeit unbeachtet blieben und erst in den letzten Jahren in musealen Retrospektiven eine verspätete Würdigung erfuhren [1], wurden im Sinne einer Revision des neusachlichen Kanons nun auch in die Neuauflage seiner namensgebenden Überblicksausstellung integriert. Darüber hinaus stellt diese auch Arbeiten von bis heute kaum bekannten Künstlerinnen wie Ilona Singer vor und setzt damit wichtige Impulse für zukünftige Forschung.

Eine zusätzliche Erweiterung gilt dem nationalen Rahmen, den Hartlaubs Beschränkung der Neuen Sachlichkeit auf die deutsche Malerei festlegte. Demgegenüber wird in der Publikation argumentiert, dass es sich bei der Hinwendung zur Gegenständlichkeit um kein isoliertes, sondern vielmehr um ein internationales Phänomen handelte. Mit Textbeiträgen zur Sachlichkeit in den Niederlanden und der Schweiz sowie der Inklusion weiterer Werke von überwiegend westeuropäischen und US-amerikanischen Künstler*innen beschränken sich die Autor*innen jedoch selbst wiederum auf einen westlichen Kontext. Auf den Blick nach Osteuropa wurde mit Verweis auf die ebenfalls 2025 im Museum Gunzenhauser in Chemnitz stattfindende Ausstellung European Realities verzichtet. Eine Öffnung der Fragestellung in Richtung weiterer Realismusströmungen außerhalb Europas wäre in Hinblick auf eine Kanonkritik jedoch eine gewinnbringende Ergänzung gewesen. Weiterhin werden in dem Ausstellungskatalog auch Verbindungslinien von der Malerei zu anderen künstlerischen Gattungen gezogen und um Überlegungen zum Sprachgebrauch, zu Grafik und Zeichnung sowie zur Fotografie ergänzt. Schließlich wird auch der zeitliche Horizont von Hartlaubs Ausstellung bis in die 1930er- und 1940er-Jahre ausgedehnt und die Neue Sachlichkeit im Kontext nationalsozialistischer Kulturpolitik diskutiert.

Wie auch Inge Herold feststellt, sind die 1920er-Jahre derzeit "en vogue" (12): Der Katalog steht in einer langen Reihe aktueller internationaler Ausstellungspublikationen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung zur Neuen Sachlichkeit. [2] Er zeichnet sich in diesem Feld durch seinen klaren Fokus auf Hartlaubs kuratorisches Konzept und dessen kritische Revision aus. Indem in der Publikation die historische Ausstellung selbst zum Gegenstand ihrer Überlegungen gemacht wird, changiert die Argumentation gekonnt zwischen einer Befragung der Neuen Sachlichkeit als übergreifendem Epochenstil und Zeitphänomen sowie ihrer lokalen Verankerung im Kontext der eigenen Institutionsgeschichte. So ermöglicht sie unter anderem auch Einblicke in Hartlaubs anfängliche kulturpolitische Schwierigkeiten in der Umsetzung des Projekts sowie in seine Sammlungs- und Ankaufsstrategie.

Eine weitere Stärke des Katalogs stellt die darin erfolgte, kritische Auseinandersetzung mit der Kontinuitätsfrage dar. Dass die Neue Sachlichkeit ausgesprochen heterogene und teils widersprüchliche künstlerische Positionen unter einen Sammelbegriff subsumiert, wurde bereits in den 1920er-Jahren kritisch diskutiert. Unter ihren verschiedenen Ausprägungen identifizierte Hartlaub nach der "Zwei-Flügel-Theorie" den linken, sozialkritischen Verismus und den rechten Klassizismus als zentrale Stoßrichtungen. Der Entwicklung des konservativen Flügels, welcher bereits in der Ausstellung von 1925 dominierte, widmete er unter dem Titel Deutsche Provinz (Erster Teil). Beschauliche Sachlichkeit 1933 eine Folgeausstellung, die die Hinwendung zur neuromantischen "Beschaulichkeit" und eine Besinnung auf Tradition und Handwerkskunst hervorhob. Wie Inge Herold darlegt, beginnt das Erstarken konservativer bis zivilisationskritischer Strömungen jedoch bereits in den 1920er-Jahren und bereitet einen fließenden Übergang vor. Damit stellt sie zugleich die These vom Nationalsozialismus als Endpunkt der Neuen Sachlichkeit auf den Prüfstand, die "lange den Blick auf die Frage nach der Kontinuität neusachlicher Tendenzen verstellt" habe (22).

Zugleich bleibt unbestritten, dass 1933 eine Zäsur darstellt: Hartlaub wurde entlassen und zahlreiche neusachliche Werke als "entartet" verfemt. Vor diesem Hintergrund gewährt Inge Herold Einblicke in unterschiedliche Biografien und thematisiert Leerstellen der Neuen Sachlichkeit in Folge der Shoah und des Zweiten Weltkriegs. Zugleich nimmt die Publikation aber auch ambivalente Haltungen neusachlicher Künstler*innen gegenüber dem Nationalsozialismus in den Blick, die von Anpassung bis hin zu aktiver Unterstützung reichen. Deutlich wird darüber hinaus auch die Willkür im Umgang mit Künstler*innen durch das NS-Regime, die häufig eher kulturpolitisch als stilistisch motiviert war. Wie der Beitrag von James A. van Dyke ausführt, war auch ein Verist wie Otto Dix, der weder jüdisch noch im Widerstand aktiv war, "nicht so umfassend isoliert oder existenziell bedroht [...], wie man vielleicht annehmen möchte", sondern konnte trotz Repressalien und auch nach seiner Diffamierung als "entartet" Möglichkeiten zur Fortführung seiner künstlerischen Arbeit finden (263f.). Am Beispiel von Dix' Spätwerk lässt sich zudem nachvollziehen, dass nicht nur Vertreter*innen der "beschaulichen" Sachlichkeit für den Nationalsozialismus anschlussfähig waren, sondern auch ein Teil des linken Flügels einen Stilwandel vollzog (260f.).

Mit der Befragung von Kontinuitätslinien zwischen Moderne und Nationalsozialismus reiht sich Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum in aktuelle Beiträge zu einem Desiderat der kunsthistorischen Forschung ein, welches in jüngerer Zeit wieder verstärkt in den Fokus von Ausstellungen und Publikationen gerückt ist. [3] Dass diese Fragestellung insbesondere vor dem Hintergrund des Erstarkens rechtsextremer politischer Kräfte in Europa noch einmal an Brisanz gewinnt, zeigt sich nicht zuletzt an dem Fortleben des Begriffs 'Neue Sachlichkeit' in der Neuen Rechten, auf das auch Inge Herold verweist (25). Mit der sorgfältig recherchierten Publikation ist insgesamt eine differenzierte Neubetrachtung von Hartlaubs Ausstellung sowie des neusachlichen Kanons gelungen, die zudem wertvolle Ansatzpunkte für weiterführende Forschungsarbeiten leistet.


Anmerkungen:

[1] Alexander Eiling / Elena Schroll (Hgg.): Lotte Laserstein - Von Angesicht zu Angesicht, Ausst. Kat. Städel Museum, Frankfurt am Main und Berlinische Galerie 2018 / 2019, München 2018 und Karin Schick (Hg.): Anita Rée. Retrospektive, Ausst. Kat. Hamburger Kunsthalle 2017 / 2018, München 2017.

[2] Vgl. u.a. Ulrike Groos et al. (Hgg.): Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit, Ausst. Kat. Kunstmuseum Stuttgart und Kunstsammlungen Chemnitz - Museum Gunzenhauser, 2023 / 2024, Berlin 2023 und Angela Lampe (Hg.): deutschland/1920er Jahre/neue sachlichkeit/august sander, Ausst. Kat. Centre Pompidou, Paris / München 2022.

[3] Vgl. u.a. Blümm Anke et al. (Hgg.): Bauhaus und Nationalsozialismus, Ausst. Kat. Museum Neues Weimar, Bauhaus-Museum Weimar und Schiller-Museum, Weimar / München 2024.

Sonja Palade