Martin Kriemann: Jugend mit »geteilten« Erfahrungen. Zur Rekonstruktion der DDR-Erinnerungsmodi Nachwendegeborener in Gruppendiskussionen, Weinheim: Verlagsgruppe Beltz 2023, 389 S., ISBN 978-3-7799-7714-8, EUR 45,00
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"Die Deutsche Einheit ist ein bedeutender historischer und biographischer Marker - auch für Nachwendegeborene." (344, 357) Mit diesem Teilergebnis schließt Martin Kriemann seine an der FU Berlin im November 2022 verteidigte Dissertation und trägt somit eine bedeutende Ergänzung zu einem Themengebiet bei, das sich breiten öffentlichen Interesses sicher sein kann. Erinnerungen an und Deutungen über die DDR und die anschließende deutsche Einigung sind spätestens seit den Bestsellern von Dirk Oschmann, Katja Hoyer und Steffen Mau der Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Es handelt sich um eine Arena aktueller gesellschaftlicher Kontroversen über Defizite der deutschen Einheit und den Aufstieg der im Osten der Republik als gesichert rechtsextremen geltenden AfD. Neben Projekten in der Oral History und Zeitgeschichte widmen sich auch die Sozialwissenschaften vermehrt der Frage nach dem Nachleben der realsozialistischen Diktatur in den Köpfen.
Kriemann legt eine erziehungswissenschaftliche Studie vor, die auch für (Bildungs-)Historikerinnen und Historiker, Jugendforscherinnen und Jugendforscher, Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker und benachbarte Forschungsgebiete erkenntniserweiternde Anschlüsse liefert. Denn sein Anliegen lässt sich durch die einfache und wesentliche Fragestellung zusammenfassen, wie die Nachwendegeneration in Ost und West, die die DDR nicht mehr selbst erlebte, diese erinnert. Kriemann versteht die Jugendlichen nicht bloß als zu adressierende Rezipientinnen und Rezipienten geschichtspolitischer Sendeprozesse, sondern als "Akteur:innen der inter- und intragenerationalen Vermittlung und Träger:innen eines generationsspezifischen Wissens" und fokussiert deshalb deren Erfahrungswissen, "um dem gesellschaftlichen und fachlichen Diskurs eine weitere und wichtige Perspektive bei der Aufarbeitung der deutschen Zeitgeschichte hinzuzufügen" (14).
Die große Stärke der Arbeit liegt in ihrem methodischen Zugriff. Kriemann verlässt die gewohnten Pfade der Wissensabfrage, wie sie die Geschichtsdidaktik oftmals rezipiert und wendet sich den Praktiken des Erinnerns selbst zu - also nicht der Frage was Jugendliche über die DDR wissen, sondern wie sie darüber sprechen. Mit der Dokumentarischen Methode rekonstruiert er die impliziten Orientierungen, die den Erzählungen der Jugendlichen eingeschrieben sind. So wird sichtbar, dass Erinnerung hier weniger als Sammlung abrufbarer Fakten funktioniert, denn als performativer Akt - ein sozial situiertes Deuten, Aushandeln und Positionieren.
Der Autor nutzt mit heuristischer Kühnheit den Werkzeugkasten der qualitativen Sozialforschung und zeigt, wie viel Erkenntnispotenzial jenseits der üblichen Wissensabfrage des Geschichtsunterrichts schlummert. Während gängige Studien meist den Kenntnisstand der Jugendlichen kartieren (um ihn anschließend zu beklagen), betont er die Eigenlogik der Wissensaneignung. Die Jugendlichen erscheinen nicht als defizitäre Rezipientinnen und Rezipienten von staatlich verordneter Erinnerungspolitik, sondern als Akteurinnen und Akteuren, die mit den diskursiven Versatzstücken ihrer Umwelt "historische Sinnbildung" (Jörn Rüsen) betreiben. Wer künftig über Geschichtsbewusstsein forschen will, findet in der Studie eine wertvolle empirische wissenssoziologisch-praxeologische Tiefenbohrung.
Charmant ist zudem, dass Kriemann seine theoretische und methodologische Selbstreflexion nicht als akademischen Zierrat, sondern als integralen Bestandteil des Forschungsprozesses versteht. Er betreibt eine rekonstruktive Theoriebildung, die als zirkuläre Verschränkung von Empirie und Methodologie funktioniert. In Zeiten, in denen empirische Bildungsforschung gern den Habitus naturwissenschaftlicher Linearität einnimmt, wirkt diese Offenheit erfrischend und lädt zur methodischen Reflexion ein.
Die empirischen Analysen bestechen durch ihre sorgfältige Rekonstruktion. Die Gruppendiskussionen werden nicht als Container individueller Meinungen missverstanden, sondern als Räume, in denen Wissensordnungen in Anschluss an Karl Mannheims und Ralf Bohnsacks Überlegungen hervortritt. Die eingangs beinahe zu ausführlich anmutende Theorieexegese überzeugt dann, sobald Kriemann seine Ergebnisse ausbreitet: Zwar lassen sich Differenzen zwischen Jugendlichen in Ost und West bezüglich des konjunktiven Gedächtnis über die DDR feststellen, so lässt sich das Einstellungsmuster von Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen mit Martin Sabrow eher als "Diktaturgedächtnis" lesen, während Jugendliche aus Berlin und Brandenburg viel eher ein "Arrangementgedächtnis" perpetuieren. Doch auf der Ebene des performativen Gedächtnisses, also der Frage wie Jugendliche in Ost und West ihr Wissen über die DDR ordnen und validieren, ähneln sich die Muster, und es wird statt der unterschiedlichen Herkunftsregionen die generationale Zugehörigkeit tragfähig: Die Jugendlichen nähern sich der Vergangenheit im Sinne einer alltagsgeschichtlichen Perspektive "durch ihre Bemühung, Verstehen-Wollen und Verstehbar-Machen der Geschichten von Menschen" zu erreichen (323). Somit erscheint die von Kriemann kritisch überprüfte These der "Mauer in den Köpfen" als teilweise widerlegt: Dass daraus schließlich drei sinngenetische Modi des Erinnerns destilliert werden (emotional-affiziert, reflexiv-kritisch, rational-distanziert), stellt eine überzeugende Typologie dar.
Alles in allem ist dieses Buch ein produktiver Beitrag für ein aktuelles Forschungsfeld - nicht, weil es endgültige Antworten liefert, sondern weil es zeigt, wie man kluge Fragen stellt, ohne normativ vermeintliche Missstände zu betrauern. Bildungs- und zeithistorisch Interessierte können hier lernen, wie fruchtbar sozialwissenschaftliche Verfahren für die historische Bildungsforschung sein können, wenn man sie nicht als Fremdkörper, sondern als komplementäre Analyseinstrumente begreift. Wer Geschichtsbewusstsein nicht nur vermessen, sondern verstehen will, sollte Kriemanns Studie als methodische Anregung lesen.
Adrian Weiß