Rezension über:

Arne Karsten: Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, 304 S., 22 Abb., ISBN 978-3-525-36249-5, EUR 39,00
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Rezension von:
Gregor Rohmann
Museum für Hamburgische Geschichte
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Schnettger
Empfohlene Zitierweise:
Gregor Rohmann: Rezension von: Arne Karsten: Kardinal Bernardino Spada. Eine Karriere im barocken Rom, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 2 [15.02.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/02/2185.html


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Diese Rezension erscheint auch in PERFORM.

Arne Karsten: Kardinal Bernardino Spada

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Wohl kaum ein akademisches Fach dürfte auf die alltägliche Wahrnehmung seines Gegenstandes einen so geringen Einfluss haben wie die Geschichtswissenschaft. Undenkbar, dass für das Alltagswissen etwa über Physik oder Biologie die einschlägige Wissenschaft irrelevant sein könnte. Dass eben dies in Geschichte der Fall ist, ist ein in Relevanzdiskussionen des Faches geflissentlich übersehener, in Sonntagsreden wortreich beklagter Umstand. Anzuzeigen ist hier ein seltener Versuch, das Feld der Geschichtswahrnehmung nicht den Bahnhofsbuchhandlungen und Doku-Dramen zu überlassen und Ergebnisse der neueren Forschung in zugleich gut lesbarer und doch wissenschaftlich seriöser Form auch einem breiteren Publikum vermittelbar zu machen. Kaum ein Thema dürfte diesen Versuch so sehr lohnen wie jene Ansammlung dekadenter, korrupter, machtgieriger, geiler und heuchlerischer alter Männer, als die "der Vatikan" respektive "die (katholische) Kirche" durch das allgemeine Geschichtsbild geistert.

Arne Karsten, Kunsthistoriker in Berlin, hat neben seiner Dissertation (über das Mäzenatentum der Kardinalnepoten im 17. Jahrhundert) Zeit gefunden, das Leben an der römischen Kurie der Frühneuzeit nachzuerzählen als Biografie eines ihrer typischen Vertreter. Ausgehend von neueren Forschungen zum barocken Rom, etwa aus den Kreisen um Wolfgang Reinhard oder Volker Reinhardt, vermag er am Beispiel seines Helden einleuchtend zu zeigen, welcher eigenen Logik für heutige unverständlich oder gar unmoralisch anmutende Phänomene wie Nepotismus, familiale Klientelwirtschaft, profanes Repräsentationsbedürfnis oder pragmatisches Machtbewusstsein entsprangen: Mikropolitik zum Anfassen also. Aufgeklärt jedoch wird hier nicht etwa im Duktus frommer Apologie oder wissenschaftlicher Besserwisserei, sondern zumeist gleichermaßen mit wohltuender Sachlichkeit und literarischem Schwung. Wie eine Nummernrevue ziehen die Einsichten der Forschung zwanglos vorbei und machen den Lebensweg des Helden in seinen historischen Bedingungen erst recht verständlich. Gelegentlich bleiben diese Exkurse belehrend, im schlimmsten Fall also auf dem Niveau dessen, was ansonsten als Qualität verkauft wird. In der Regel jedoch gelingt es Karsten, vermittels seiner profunden Kenntnisse seiner Biografie sprichwörtlich Leben einzuhauchen.

Bernardino Spada (1594-1661) stieg nicht nur mit tat- und vor allem finanzkräftiger Unterstützung seines Vaters Paolo, der es bis zum Generalschatzmeister der Romagna gebracht hatte, bis zum einflussreichen Kurienkardinal auf. Er behauptete seine Machtstellung auch über Jahrzehnte hinweg als "Schiffchen" auf dem "Ozean dieses Hofes" (29) und verstand zugleich, die Hilfe, die ihm erwachsen war, gutzumachen, indem er seine Familie im Adel des Kirchenstaates installierte. Als Rechtsreferendar (ab 1617), Nuntius in Paris (ab 1623), dann als Legat, also päpstlicher Verwalter, in Bologna (ab 1627) und schließlich als begnadeter Fädenzieher in den Kongregationen der Kurie (ab 1631) überstand er fünf Päpste. Sein Bruder, der Oratorianer Virgilio Spada (1596-1662), wollte später diesem für den Aufstieg des Hauses Spada so wichtigen Mann ein Denkmal setzen, indem er seine Biografie für die Nachkommen aufschrieb.

Arne Karsten schreibt nun dieses unvollendet gebliebene Werk zu Ende. Doch erst seine zahlreichen Hinweise über die römische Lebenswelt des 17. Jahrhunderts machen diese Geschichte zum Gegenstand einer tatsächlich historischen, nämlich nicht vergegenwärtigenden, sondern um ein Verständnis aus der Logik der Zeit heraus bemühten Erfahrung: Wie funktioniert das Geben und Nehmen des Klientelwesens, wie macht man sich bei den einen beliebt, ohne sich bei den anderen unbeliebt zu machen? Auf wen sonst, wenn nicht auf die Verwandtschaft, die sprichwörtlichen Nepoten, soll sich politische Macht stützen bei kaum institutionalisierter Herrschaft? Was jedoch muss eine Familie unternehmen, um sich zu etablieren in jener extrem dynamischen Gesellschaft im Gewand einer ständischen Statik? Wie sonst als durch Geschenke soll (außerverwandtschaftliche) Loyalität, wie sonst als durch dauernde Repräsentation Status und Macht, wie sonst als durch auch brutale Durchsetzungsfähigkeit Herrschaft entstehen? Was heißt "Korruption", wenn eine Trennung von öffentlichen und privaten Kassen noch gar nicht existiert? Wozu fördert man Künstler, schreibt man lateinische Gedichte oder bezahlt Gelehrte? Von welchem Künstler lässt man sich welches Werk unter welchen Umständen zu welchem Zweck schaffen? Warum wird gerade Rom zum kulturellen Zentrum des frühneuzeitlichen Europa? Wie sieht der Alltag eines Kardinals aus, wenn ein Brief von Rom nach Paris Wochen unterwegs ist und Vertraulichkeit eigentlich nur durch persönliche Kontakte zu gewährleisten ist? Was macht einen Kardinal papabile, und warum ist es ausgerechnet sein großer Einfluss, ja, gerade der Erfolg seiner familiären Aufstiegsstrategie, die Spada unwählbar werden lassen?

Es sind nur Details, recht eigentlich nur Geschmacksfragen, die zu bemerken bleiben: Dass im Protestantismus die "Trennung von Kirche und Staat [...] im Zuge der Reformation festgeschrieben worden" sei (63), kann wohl nur ein mit ganzem Herzen Rom zugetaner Historiker behaupten. Auch wenn Spadas Bemühungen um ein buon governo in Bologna aus heutiger Sicht ohne Zweifel in den Kontext der Durchsetzung moderner Staatlichkeit gehören (87ff.), ist doch Vorsicht angezeigt, wenn ihm diese quasi als bewusstes Endziel unterstellt wird. Und umgekehrt gibt es gerade in diesem Zusammenhang über das frühneuzeitliche Söldnerwesen gewiss mehr zu sagen als den Abklatsch eines Freytagschen oder Manzoni'schen Genrebildes von "Unordnung, Chaos und wüste[r] Irrationalität" (107). Die hohe Emotionalität und Expressivität der Kommunikation in der Frühen Neuzeit scheint Karsten als Gegensatz zur hochgradigen Ritualisierung des Hoflebens zu sehen (278). Dabei handelt es sich doch eher um zwei Seiten einer Medaille, nämlich der Notwendigkeit einer im Vergleich zu heute ungleich stärkeren zeichenhaften Aufladung der täglichen Kommunikation. Die päpstlichen Anleihen (Luoghi di Monte, 158) hätte man dem Kleinanleger von heute kurz erläutern können. Die, die es, dem Gegenstand entsprechend, nach sex and crime dürstet, werden bemerken, dass Bernardino Spada als eben jenes geschlechtslose Wesen erscheint, dass er offiziell zu sein hatte. Einschlägiges freilich werden die vorliegenden Quellen schwerlich überliefern und kann sich der geneigte Leser auch ohne größeren Aufwand hinzudenken.

Quellenzitate werden in Deutsch mit dem italienischen Text in der Fußnote gegeben. Leider war es offenbar nicht möglich, dem angestrebten breiteren Publikum auch die weiteren ergänzenden Texte in den Fußnoten mit deutscher Übersetzung zu bieten. Dies gilt auch für den hochinteressanten Abdruck eines für die Intrigen Spadas gelegentlich sehr bedeutsamen Berichts über eine rekordverdächtige Teufelsaustreibung durch einen seiner Gegenspieler. Der Band schließt mit einem Personenregister und drei für die Lektüre sehr hilfreichen Stammtafeln des Hauses Spada.

Karsten stützt sich in der Hauptsache auf bisher unbekannte Quellen und wirft dabei zugleich ein Schlaglicht auf die ausgerechnet für das frühneuzeitliche Rom in der einschlägigen Forschung bisher praktisch unbeachtete Gattung der Familienchroniken und (auto-)biografischen Schriften. Er hat sich eine Persönlichkeit herausgegriffen, der bisher eine angemessene Würdigung versagt geblieben war. Schließlich erledigt er all dies, wie erwähnt, in aller angemessenen Seriosität und mit großem historischem Gespür. So ist sein Buch nicht nur ein im Fach Geschichte seltenes Lesererlebnis, sondern auch ein großer Gewinn für die Forschung. Es ist ihm aller Erfolg zu wünschen, am besten eine baldige zweite Auflage, mit der dann auch einige Redundanzen, gelegentlich störende Nachlässigkeiten des Lektorats und die ganz und gar wissenschaftliche Preisgestaltung ausgebessert werden könnten.

Gregor Rohmann