Frank Matthias Kammel (Bearb.): Kleine Ekstasen. Barocke Meisterwerke aus der Sammlung Dessauer. Mit Beiträgen von Saskia Durian-Ress, Annette Scherer, Beatrize Söding und Ulrich Söding (= Katalog zur Ausstellung Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Graz, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Magdeburg, Kunstmuseum Kloster Unser Lieben Frauen, Freiburg, Augustinermuseum), Nürnberg: Germanisches Nationalmuseum 2001, 117 S., 69 Farb-, 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-926982-73-5, EUR 20,50
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Bildhauerische Modelle gehören zu den faszinierendsten und zugleich enigmatischsten Objekten der bildenden Kunst. Vielfach gestatten sie einen unmittelbaren Einblick in den kreativen Prozess ihrer Schöpfer, sind in einem modernen Sinne 'spontane' Werke und unterscheiden sich oftmals in einem nahezu unerklärlichen Maße von ihren späteren großplastischen Ausführungen in dauerhaftem Material. In kleinem Maßstab aus Ton, Wachs, Gips, ja mitunter auch aus Holz gefertigt, sind bildhauerische Studien fragile Objekte, angesichts derer sich unmittelbar zahlreiche Fragen stellen. Nur wenige Museen können weltweit auf einen größeren zusammenhängenden Bestand an plastischen Modellen verweisen. Allerdings haben in den letzten Jahren international bedeutende Ausstellungen wie diejenige zur Sammlung Farsetti und aktuell die Londoner "Earth & Fire" die Aufmerksamkeit auch eines größeren Publikums auf diese Werke gerichtet.
Die Ausstellung des germanischen Nationalmuseums, gefolgt von drei weiteren Ausstellungsorten, zeigt nun eine deutsche Privatsammlung mit kleinplastischen Werken des Barock (und Rokkoko), die, dem Katalog zufolge, überwiegend als derartige Bozzetti und Modelli entstanden.
Der von mehreren Autoren erarbeitete und opulent bebilderte Katalog präsentiert 72 Nummern in einer kunsttopografischen Gliederung, wie sie zur Präsentation von musealen Sammlungen üblich ist. Dem gleichen Prinzip entspricht auch die Abfolge in Katalog und Ausstellungsaufbau, indem mit den italienischen Werken begonnen und sodann über französische und niederländische (flämische) zu den deutschen und aus dem deutschen Sprachraum stammenden Werken vorgegangen wird. Eingeleitet wird der Katalog durch Vorbemerkungen des Sammlers und ein Essay Frank Matthias Kammels, in dem über Bozzetti und das Sammeln nachgedacht und damit zugleich der Erwartungsrahmen für Ausstellung und Katalog abgesteckt wird.
Der Katalog richtet sich offenbar nicht in erster Linie an ein Fachpublikum, sondern an den interessierten Laien, für den didaktisch, wenngleich nicht ganz fehlerfrei, die Fachterminologie in einem Glossar aufbereitet wird. Eine Bibliografie und ein Namensregister runden den Apparat ab.
Die museale Gliederung entspricht allerdings keineswegs den eigentlichen Schwerpunkten der Sammlung, sowohl was Umfang als auch Qualität anbelangt. Eindeutig liegt hier das Gewicht bei den Werken aus dem deutschen Sprachraum, gefolgt von 21 italienischen, acht französischen und sieben 'niederländischen'. In Anbetracht dessen, dass italienische und französische Werke gehobener Qualität in der Regel überhaupt nur auf dem internationalen Kunstmarkt zu erhalten sind, muss diese Gewichtung nicht weiter verwundern, allenfalls die Provenienz recht vieler Werke aus süddeutschem Kunsthandel, wo doch seit langem London und erst seit neuerem auch New York eine zentrale Rolle im Handel mit alter Skulptur spielen. Die Angabe über die Provenienz der Stücke erschöpft sich dann auch bis auf wenige Ausnahmen (Nummern 29, 34-35, 39, 58, 64-65, 67-68, 71) auf den entsprechenden Hinweis bezüglich des Erwerbs aus dem Kunsthandel. Diese Angaben werden ergänzt um eine kurze Zustandsbeschreibung und die betont präzise Nennung von Format und Material. Offenbar wurden die Objekte im Germanischen Nationalmuseum zuvor genau untersucht und von den jeweiligen Katalogautoren auch nahsichtig betrachtet. Angesichts der unsicheren Provenienz der meisten Objekte verwundert an dieser Stelle jedoch, dass trotz der technischen Untersuchungsmöglichkeiten des Museums mit Ausnahme von einem Werk (Nummer 31) auf eine naturwissenschaftliche Autopsie der Exponate verzichtet wurde, wie sie sich zumindest stichprobenartig für Terrakotten eingebürgert hat und allein auf dieser Basis schon die Entscheidung zulässt, ob es sich bei dem jeweiligen Werk um eine Skulptur des 17. beziehungsweise 18. Jahrhunderts oder eine moderne Fälschung handelt. Dies erstaunt umso mehr, da der Sammler selbst Physiker ist.
Doch auch angesichts der Untersuchung mit dem unbewaffneten Auge, wie sie in der jeweiligen Zustandsbeschreibung im Katalog wiedergegeben ist und wovon man sich in der Ausstellung selbst überzeugen kann, überrascht doch ein Befund, der sowohl im Einleitungsessay als auch in den Katalogeinträgen kaum Erwähnung findet: bis auf wenige Ausnahmen waren die Werke mit Farbe, meist sogar polychrom gefasst, was jedoch an nahezu sämtlichen Exponaten bis auf geringe Spuren entfernt ist. Obwohl in der Tat genau ausgearbeitete Präsentationsmodelle des 15. bis 18. Jahrhunderts oftmals eine Fassung erhielten, die ihr Überdauern als vollgültige Skulpturen sicherte, ist diese Praxis für Entwurfsmodelle, die Bozzetti, unüblich gewesen. Auf dem Kunstmarkt ist es jedoch bis heute unseligerweise üblich, Fassungen zu entfernen, um unscheinbare Stücke in ihrer Ästhetik zu bozzettoähnlichen Gebilden umzuformen - Skepsis ist hier also in höchstem Maße geboten.
Doch auch ohne diese Beobachtung erweisen sich viele Stücke allein auf Grund ihres Materials als durchaus reizvolle eigenständige Kleinskulpturen, oder, wie in den Katalogeinträgen reflektiert, als maßstabsgerechte Modelle für Porzellanskulpturen, wie dies im 18. Jahrhundert weitverbreitete Praxis war. Einen Entwurfscharakter, der durch die Konfrontation mit einem großplastischen Werk bestätigt würde, kann der Rezensent letztlich bei keinem der ausgestellten Werke ausmachen.
Kleinplastische Skulpturen, die nur geringe Abweichungen gegenüber einer Monumentalskulptur aufweisen, sollten grundsätzlich, der zeitüblichen Terminologie entsprechend, als 'Modell', weniger jedoch als 'Bozzetto' bezeichnet werden, soweit sie nicht Spuren eines spontanen Entstehungsprozesses tragen. Im Fall derartiger, genau ausgeführter vermeintlicher Modelle stellt sich sogleich die Frage nach Vor- und Nachbild, die um so skeptischer stimmen sollte, ist die vorgeblich nach dem Modell ausgeführte Monumentalskulptur ein berühmtes Werk oder ein geradezu ikonenhaft verbreitetes Bild eines Ordensgründers oder Fürsten (vergleiche Nummern 11, 37).
Nicht nur die Qualität der mit feinfühligen Beschreibungen arbeitenden Katalogeinträge ist insgesamt recht unterschiedlich, sondern auch die jeweilige methodische Vor- und Umsicht, insbesondere was Zuschreibungsfragen anbetrifft. Die Internationalität der Exponate stellt diese in ein jeweils hochdifferenziertes Forschungsumfeld, dem aber letztlich nur für die Stücke aus dem deutschen Sprachraum wirklich Rechnung getragen wird. Das lässt sich bereits an der weitgehend punktuellen Bibliografie ablesen.
Die Bearbeiter des Katalogs sind ausgewiesene Fachleute auf dem Gebiet der deutschen (Barock-) Skulptur, und die diesbezüglichen Einträge sind in ihrer Argumentation differenziert und fundiert aufgebaut. Der Katalog dürfte hier eine echte Bereicherung der Kenntnisse zu einzelnen Bildhauern sein. Allerdings hat es sich angesichts der kaum noch überschaubaren Forschungslage zur europäischen Skulptur bei derart umfassenden Vorhaben wie dem vorliegenden Katalog in den letzten Jahren als guter Usus herausgebildet, den jeweiligen Spezialisten 'seinen' Eintrag schreiben zu lassen. In einigen Fällen wurde auch für den Katalog der Sammlung Dessauer externer Rat eingeholt, der sodann zumindest zu einer Präzisierung beigetragen hat. Gerade bei den außerdeutschen Stücken wäre dies generell wünschenswert gewesen und hätte geholfen, einige Fehler zu verhindern (für den Rezensenten unverständliche Zuschreibungen der Nummer 21 an Canova und Nummer 22 an Slodtz).
Ausrutscher in der ikonographischen Bestimmung und Benennung der Stücke, so etwa wenn eine bärtige Figur als 'Apoll' identifiziert wird (Nummer 57) oder eine 'Madonna della Vittoria' als 'Maria de Victoria' (Nummer 10) hätten auf diesem Weg vielleicht ebenfalls vermieden werden können.
Die Ausstellung, die der Rezensent in Magdeburg besuchte, präsentiert sich betont zurückhaltend und fügt sich in angenehmer Weise in die kahlen Räumlichkeiten des Klosters. Gelegentliche Farbakzente, die als Hintergrundfolie für frei in den Raum gestellte Objekte gesetzt wurden, tragen zur unprätentiös-nüchternen Präsentation der Stücke bei. Drei Objekte sind auf rotierende Basen gestellt, wodurch ein Eindruck von allen Seiten gewonnen werden kann, ohne dass der Betrachter selbst sich bewegt. Als entsprechend allansichtig und zu einem Umkreisen herausfordernd, lässt sich hier allerdings nur der kleine, Falconet zugeschriebene Putto (Nummer 25) bezeichnen. Die Clodion zugeschriebene Satyrgruppe wurde mit einer Bronzevariante aus Magdeburger Besitz gruppiert, doch der instruktiv intendierte Vergleich wurde durch die Präsentation auf unterschiedlich hohen Sockeln, die verschieden tief im Raum standen, leider weitgehend verhindert. Ähnliche Vergleichswerke oder Fotografien der Vergleichsstücke hätte man sich in größerer Zahl gewünscht. Sie hätten geholfen, die Objekte der Ausstellung zu kontextualisieren. Leider beschränkt sich in dieser Hinsicht auch der Katalog auf nur wenige Vergleichsabbildungen.
Frank Matthias Kammel und dem Autorenteam gebührt das Verdienst, eine wichtige deutsche Privatsammlung bekannt gemacht zu haben. Es bleibt zu hoffen, dass die Präsentation von der Forschung wahrgenommen wird und zu weiteren Überlegungen anregt. Denn auch wenn nicht jedes der gezeigten Objekten einem namentlich bekannten Künstler zugewiesen werden kann oder man im Einzelnen mit den hier getroffenen Zuschreibungen nicht übereinstimmen sollte, helfen die Werke der Sammlung Dessauer doch, ein zugleich genaueres wie auch umfassenderes Bild der Produktion und des Einsatzes von Kleinplastiken im 17. und 18. Jahrhundert zu etablieren.
Johannes Myssok