Christian Gerlach / Götz Aly: Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden, München: DVA 2002, 484 S., ISBN 978-3-421-05505-7, EUR 35,00
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Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005
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Rund eine halbe Million ungarischer Juden wurde im Sommer 1944, ein knappes Jahr vor Kriegsende, innerhalb weniger Wochen in die Gaskammern von Auschwitz oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt, nur etwa 120.000 von ihnen überlebten.
Nur ein geringer Teil der mittlerweile kaum mehr übersehbaren Holocaustforschung hat sich bisher dem Schicksal der ungarischen Juden gewidmet. Die auf diesem Feld geleistete Arbeit verbindet sich in erster Linie mit dem Namen des amerikanischen Historikers Randolph Braham.[1] In Ungarn selbst wurde und wird dieses Thema nur zögerlich angegangen. Welche Brisanz es bis heute birgt, beweist der Umstand, dass den Autoren der anzuzeigenden Studie noch vor kurzer Zeit der Zugang zu wichtigen Quellenbeständen versagt wurde (16).
Sowohl Götz Aly als auch Christian Gerlach haben sich mit einschlägigen Untersuchungen auf dem Gebiet der Holocaustforschung ausgewiesen. Während Aly sich den geo- und ethnopolitischen "Vordenkern" der Judenvernichtung widmete [2], hat Gerlach die Zusammenhänge von Kriegswirtschaft und Völkermord untersucht [3]. Der nun vorliegende Band ist in zweierlei Hinsicht eine Novität: Zum einen bietet er die erste umfassende Studie deutscher Historiker zum Mord an den ungarischen Juden; zum anderen haben die Autoren ihre jeweiligen Forschungsansätze erstmals zusammengeführt, um, wie sie einleitend anmerken, am Beispiel Ungarns den "äußerst komplexen politischen und militärischen Zusammenhängen" (12) der Judenvernichtung methodisch präziser als bisher nachgehen zu können.
Die - nebst Einleitung und Schlussüberlegungen - sechs Kapitel des Buches lassen sich inhaltlich in zwei Gruppen teilen. Die erste Hälfte widmet sich dem politischen, wirtschaftlichen und militärischen Umfeld der Judenverfolgungen. Im ersten Kapitel wird gezeigt, dass die so genannte "Judenfrage" nicht erst durch die deutsche Besetzung Ungarns im März 1944 implementiert wurde, sondern schon vorher Teil des politischen und vor allem ökonomischen Diskurses des Landes war. Mit mehreren zwischen 1938 und 1942 erlassenen Gesetzen wurde bereits die wirtschaftliche und soziale Diskriminierung vollzogen, die eine wichtige Voraussetzung für die späteren Deportationen war. Unmittelbar nach dem Kriegseintritt Ungarns an der Seite Deutschlands im Juli 1941 wurden 18.000 Juden ohne ungarischen Pass aus der Karpatho-Ukraine nach Galizien deportiert. Im Januar 1942 kamen bei Massakern der Honvéd (der ungarischen Armee) im Norden Jugoslawiens annähernd 1.000 Juden ums Leben, und in Zwangsarbeitsbataillonen wurden Juden seit 1939 dem notorischen und offen gewalttätigen Antisemitismus vieler Offiziere ausgesetzt. Insgesamt fielen schon vor dem März 1944 etwa 50.000 Juden Verfolgungen durch offizielle ungarische Organe zum Opfer.
Während Aly und Gerlach diesen Vorgängen konzedieren, "nicht auf Grund einer konzeptionell geschlossenen ungarischen Vernichtungspolitik" (11) geschehen zu sein, führen sie in den folgenden beiden Kapiteln aus, dass es mit der Okkupation Ungarns durch die Deutschen zu einer Radikalisierung eben im Sinne einer solchen Politik kam. Unmittelbar nach dem Einmarsch der deutschen Truppen setzten Verfolgungen in Form von massenhaften Verhaftungen, Enteignungen und ersten Gettoisierungen ein. Die Autoren belegen, dass die Deutschen dabei weitestgehend auf einen kooperationsbereiten ungarischen Verwaltungsapparat zurückgreifen konnten.
Die Deutschen verfolgten mit der Besetzung Ungarns handfeste kriegswirtschaftliche Ziele: Sie benötigten dringend Ressourcen (Arbeitskräfte, Rohstoffe, Geld und Lebensmittel), die zu einem nicht geringen Teil durch die Enteignung und Vernichtung der Juden gewonnen werden konnten. Von ungarischer Seite sah man die Möglichkeit, die Lasten der Besatzung zu Gunsten der nichtjüdischen Bevölkerung auf die Juden abzuwälzen und damit die bereits begonnene "Magyarisierung" jüdischen Eigentums zu Ende zu führen. Nicht zuletzt diente diese, von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene, Umverteilungspolitik der erneuten Kriegsmobilisierung der nichtjüdischen Ungarn. Doch bei allem Zusammenspiel deutscher und ungarischer Interessen heben Aly und Gerlach einen entscheidenden Unterschied hervor: "War die ungarische Politik auf die schrittweise Diskriminierung, Enteignung und mittelfristige Zwangsumsiedlungen gerichtet, zielte die deutsche auf die sofortige Expropriation und auf die unmittelbare Deportation in Vernichtungs- und Zwangsarbeitslager" (211).
Dem Thema der Deportationen ist die zweite Hälfte des Buches gewidmet. Die Autoren zeigen hier, dass und wie sich Ungarn in den "arbeitsteiligen Massenraubmord" (239) an seiner jüdischen Bevölkerung hineinziehen ließ. Am 15. Mai 1944 rollte der erste Deportationszug mit 3.000 Menschen aus Ungarn nach Auschwitz. Die Planung der Deportationen oblag dem eigens nach Ungarn berufenen Sonderkommando Adolf Eichmanns, die Durchführung war jedoch nur mithilfe ungarischer und auch slowakischer Behörden möglich. Allein die kasernierte Gendarmerie Ungarns stellte 20.000 Mann bereit, die zusammen mit Einheiten der Waffen-SS die Gettoisierung, Erfassung und den Abtransport der Opfer gewährleisteten.
Als Reichsverweser Miklós Horthy am 9. Juli die Deportationen stoppte, waren nur noch die Juden in Budapest, rund 120.000 Menschen, übrig geblieben. Der plötzliche Stopp der Deportationen folgte, ebenso wie die vorherige Einwilligung zu ihrem Beginn, in erster Linie realpolitischen Erwägungen: Die militärische Niederlage Deutschlands mitsamt seiner Verbündeten war zu diesem Zeitpunkt absehbar, Anfang Juli hatte es erstmals schwere alliierte Bombenangriffe auf Budapest gegeben. Wollte Ungarn den Kriegsaustritt vorbereiten, dann musste es sich des Wohlwollens der alliierten Mächte versichern, die bereits zahlreiche Protestnoten gegen die Judendeportationen an Horthy und die Regierung übermittelt hatten.
Indes war den in Budapest verbliebenen Juden nur eine kurze Atempause vergönnt. Nachdem Horthy am 15. Oktober 1944 den Kriegsaustritt Ungarns erklärt hatte, kam es mit deutscher Unterstützung zum Putsch der faschistischen Pfeilkreuzler Ferenc Szálasis, deren bis in den Januar 1945 reichendes Terrorregime weitere 20.000 jüdischer Opfer forderte. Bei der endgültigen Einnahme Budapests durch die Rote Armee im Februar 1945 lebten noch etwa 100.000 Juden in der Stadt. Zwei Drittel der etwa 800.000 1944 unter ungarischer Hoheit stehenden Juden waren ermordet worden.
Mit dem vorliegenden Buch haben Götz Aly und Christian Gerlach eindrücklich die Argumentationskraft ihrer jeweiligen Forschungsansätze nachgewiesen. Ihrem Anspruch, durch die Zusammenführung beider Erklärungsmodelle ein möglichst umfassendes Bild von Vorgeschichte, Abläufen und Begründungszusammenhängen des Judenmordes zu liefern, wird die Studie in überzeugender Weise gerecht. In minuziöser Quellenarbeit, die auf Archivrecherchen in Deutschland, Ungarn, Israel und den Vereinigten Staaten beruht, belegen sie am Beispiel Ungarns ein weiteres Mal, dass die Vernichtung der europäischen Juden erst in einem Zusammenspiel von antisemitischer Ideologie und realpolitischen Interessenslagen aller Beteiligter möglich wurde.
Einzig im Kapitel zur Vorgeschichte macht sich negativ bemerkbar, dass die Autoren - wie sie selbst anmerken - mit der ungarischen Geschichte nur wenig vertraut sind. Hier hätte man - im Rückgriff auf eine einschlägige neuere Forschung - deutlicher herausarbeiten können, in welch fataler Weise schon in der Zwischenkriegszeit "jüdische Frage" und "soziale Frage" miteinander verknüpft und in den Mittelpunkt des politischen Diskurses gerückt wurden. Die Gesamtargumentation des Buches hätte so noch mehr an Tiefenschärfe gewonnen.
Zum Schluss sei eine ausdrückliche Rüge an den Verlag ausgesprochen: Die Autoren bekennen eingangs des Buches ihre Schwierigkeiten mit der korrekten Wiedergabe ungarischer Orts- und Personennamen. Hier wäre der Verlag mit einem sachkundigen Lektorat in der Pflicht gewesen! Gerade in einem Werk mit einem über weite Strecken dokumentarischen Charakter wäre eine Überprüfung der Schreibweisen unerlässlich gewesen - nicht zuletzt im Register, das wegen der zahllosen Fehler nahezu unbrauchbar ist. Auch wären bei der zugegebenermaßen unübersichtlichen Geografie der in Rede stehenden Region eine Vereinheitlichung der Ortsbenennungen im Text und eine ergänzende Ortsnamenkonkordanz im Anhang hilfreich gewesen
Anmerkungen:
[1] Als grundlegend sei hier die 1963 in New York erschienene zweibändige Quellendokumentation "The Destruction of Hungarian Jewry. A Documentary Account" genannt.
[2] Götz Aly: "Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt a. M. 1995; ders. / Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.
[3] Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998; ders.: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
Heidemarie Petersen