Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2005, 445 S., ISBN 978-3-10-000420-8, EUR 22,90
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Der Journalist und Historiker Götz Aly war schon immer gut für produktive Provokationen: 1984 publizierte er gemeinsam mit Karl-Heinz Roth die "Restlose Erfassung" - und lenkte das Augenmerk auf die statistischen Wegbereiter von Zwangssterilisation und "Euthanasie". Fünf Jahre später veröffentlichte er zusammen mit Susanne Heim die "Vordenker der Vernichtung", ein Buch, das den Judenmord aus ökonomischem Kalkül zu erklären versuchte und die Mitwirkung akademischer Experten daran in den Vordergrund rückte. Aly und seine Ko-Autoren haben immer wieder Fragen aufgegriffen, die von der etablierten NS-Forschung übersehen wurden, und so eine Reihe ertragreicher, differenzierter Nachfolgebeiträge angeregt. Die Rolle des Provokateurs spielt Aly auch mit seinem neuen Buch; ob die Resultate auf lange Sicht ähnlich produktiv sein werden, muss sich zeigen.
Ich werde im Folgenden nicht sämtliche Thesen Alys diskutieren, sondern mich auf die sozialhistorischen Aspekte seiner Studie beschränken. Alys Kernthese lautet: Der Nationalsozialismus sei antielitär gewesen und habe soziale Unterschiede eingeebnet. Das NS-Regime sei mit "Härte gegen die Bourgeoisie" (77 ff.), dagegen mit "Milde gegen die Massen" (66 ff.) vorgegangen und habe "klassenbewusst innenpolitisch die Lasten zum Vorteil der sozial Schwächeren verteilt" (37). Die NS-Diktatur müsse folglich als "Gefälligkeitsdiktatur" (36, 49 u. ö.) und "Volksstaat" verstanden werden, als eine Art Diktatur für das Proletariat.
Im ersten Teil ("Stimmungspolitiker in Aktion") untersucht Aly die Steuerpolitik des NS-Regimes und listet einige bekannte Maßnahmen auf, die den Unterschichten zugute kamen. Allerdings spricht er den zentralen Indikator, der über die Stichhaltigkeit seiner These eines egalitären oder zumindest egalisierenden "Volksstaates" entscheidet, die Lohn-, Einkommens- und Arbeitszeitentwicklung, nur beiläufig oder gar nicht an. Während er die Steuerpolitik auf fünfzig Seiten wortreich abhandelt, werden Löhne und Gehälter nur auf fünf Zeilen angesprochen (49); die exorbitante Ausdehnung der Arbeitszeit bei gleichzeitig weiterer Intensivierung der Arbeitsleistung ist für ihn überhaupt kein Thema. Mit der Feststellung, die gesamtgesellschaftliche Lohn- und Gehaltssumme sei 1938 höher als 1929 gewesen, will Aly seine These vom fürsorglichen, zudem egalitären "Sozialismus" der Nazis stützen, indem er suggeriert, dass auch die individuellen Einkommen der Arbeitnehmer in den beiden letzten Vorkriegsjahren über dem 1929 erreichten Spitzenniveau der Weimarer Republik gelegen hätten. Der von ihm verwendete Indikator "Gesamtheit aller (Brutto-)Arbeitseinkommen" ist jedoch irreführend, unter anderem deshalb, weil er unberücksichtigt lässt, dass (1.) auch 1929 eine hohe Sockelarbeitslosigkeit bestand, während seit 1935/36 die letzten Reste der Erwerbslosigkeit statistisch verschwanden, (2.) die Erwerbsquote seit 1936 deutlich höher lag als 1929, nicht zuletzt, weil Frauen für lohnabhängige Erwerbstätigkeit mobilisiert wurden, und (3.) die Arbeitszeiten seit 1934 massiv ausgedehnt wurden. 1935 und 1938 wuchs zudem (4.) das Deutsche Reich räumlich erheblich (Saarland, Österreich und Sudetenland). Auch dies ließ die "Gesamtheit der Arbeitseinkommen" sprunghaft ansteigen; (5. ) ebnet Alys Indikator die Kluft zwischen den Effektivverdiensten nach Geschlecht, Qualifikation, Branchen, Betriebs- und Ortsgrößen auf unzulässige Weise ein.
Aly spekuliert auf den uninformierten Leser. Deshalb seien einige Fakten zur Lohn- und Arbeitszeitentwicklung kurz referiert: Die nominellen Bruttostundenverdienste deutscher Arbeiter beiderlei Geschlechts lagen noch 1943 um 8,0% unter dem Stand von 1929. Selbst diese auf der amtlichen Lohnstatistik basierenden Prozentwerte beschönigen die Einkommenskonstellationen zu Gunsten des NS-Regimes. Denn in die Angaben zu den Stundenverdiensten flossen sämtliche Überstunden-, Sonntagszuschläge etc., mithin die Veränderungen der Arbeitszeiten, ein. Und die hatten sich erheblich verlängert. Die Arbeitszeiten vor allem männlicher Industriearbeiter erhöhten sich zwischen 1929 und 1943 erheblich: 1941 lag die durchschnittliche Arbeitszeit um 10,3% über dem Niveau von 1929. In zahlreichen Industriesektoren, insbesondere in weiten Teilen der Rüstungsindustrie, wurden die Arbeitszeiten weit über die 60-, mitunter sogar über die 72-Stunden-Woche hinaus verlängert. Dies macht bereits den Vergleich der Wochen- und Jahreseinkommen problematisch, ein Vergleich der nominellen (Brutto-)Einkommen sämtlicher im Deutschen Reich beschäftigter Arbeitnehmer führt gar grob in die Irre. Entgegen Alys These von der nationalsozialistischen "Fürsorgediktatur" blieb die Einkommenslage breiter Arbeiterschichten, die immerhin knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, so elend wie auf dem Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise. Teilweise verschlechterte sie sich seit der NS-Machtergreifung, wie die vielfache Aushöhlung bestehender Tarifordnungen durch nationalsozialistische "Treuhänder der Arbeit" und die steigende Zahl untertariflich Entlohnter in vielen Branchen zeigt. Auch die klaffende Lohndrift zwischen männlichen und weiblichen Arbeitskräften (1928 verdienten Metallarbeiterinnen im Durchschnitt 62,6% des Bruttostundenverdienstes ihrer männlichen Kollegen, 1944 nur mehr ca. 57,6%) und zunehmende branchenspezifische Lohnunterschiede als Folge der Rüstungskonjunktur lassen Alys These eines egalitären nationalsozialistischen Volksstaats fragwürdig erscheinen.
Betrachtet man den Gesamtumfang aller lohnbezogenen Abgaben, verliert zudem ein Hauptargument Alys, die steuerpolitische Begünstigung gering verdienender Arbeitnehmer, deutlich an Überzeugungskraft. Zwar blieben die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung im Wesentlichen konstant. Allerdings wurde 1930 mit der von allen Lohn- und Gehaltsempfängern zu entrichtenden "Bürgersteuer" eine zusätzliche Abgabe zur Finanzierung des staatlichen Haushaltsdefizits eingeführt. Sie wurde - obwohl als nur vorübergehendes, krisenbedingtes "Notopfer" gedacht - bis 1945 beibehalten und zur Rüstungs- und Kriegsfinanzierung genutzt. Nach der NS-Machtergreifung traten quasi obligatorische Spenden an das "Winterhilfswerk" hinzu sowie Mitgliedsbeiträge für die Deutsche Arbeitsfront, der seit 1936/37 mehr als 90% und bei Kriegsbeginn fast die gesamte deutsche Arbeitnehmerschaft angehörte. Die letztgenannten Abgaben, deren Höhe immer wieder Unzufriedenheit in Arbeiterkreisen hervorrief, tauchen in den offiziellen Angaben des Statistischen Reichsamtes nicht auf. Entgegen dem geschönten Selbstbild des NS-Regimes erhöhten sich die Lohnabzüge in Relation zu den Bruttowochenverdiensten von 12,5% 1929 auf 18,1% nach Kriegsbeginn. Die Nettoverdienste abhängig Beschäftigter sanken also noch deutlich stärker als die Bruttoverdienste.
Auch die amtlichen Angaben zur Entwicklung der Realeinkommen vermitteln ein stark geschöntes Bild. Nach ihnen wären die wöchentlichen Nettorealeinkommen (in die auch die verlängerten Arbeitszeiten einflossen) zwischen 1929 und 1938 um 1,4% gestiegen. Schätzungen aus der Ministerialbürokratie zeichnen freilich ein anderes Bild: Danach sanken die wöchentlichen Nettorealeinkommen im Reichsdurchschnitt in den zehn Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkrieges um mindestens zehn Prozent - und das, obwohl das Gros der Arbeitnehmer seit 1935/36 weit mehr Über-, Sonn- und Feiertagsstunden abzuleisten hatte als 1929. Der Masse der deutschen Arbeitnehmer ging es also nicht besser als in der Weimarer Republik, sondern deutlich schlechter. Sie trug die Lasten der massiven Aufrüstung, während sich Besitzende über ausgelastete Produktionskapazitäten und enorme Gewinne freuen konnten - wesentlich bedingt durch die politisch erzwungene Absenkung der Lohnkosten.
Über die tief greifende Entrechtung von Arbeitnehmern durch die gewaltsame Zerschlagung der Gewerkschaften und die nationalsozialistische Neuordnung des Arbeitsrechts, das Arbeiter und Angestellte zur "Gefolgschaft" degradierte und sie gegenüber dem "Betriebsführer" zu bedingungsloser "Treue" verpflichtete, verliert Aly kaum ein Wort. Sozialpolitische Wohltaten, die das Hitler-Regime der Arbeiterschaft anbot, sollten die allgegenwärtige Repression, fehlende Partizipationschancen, erzwungene Sprachlosigkeit sowie niedrige Realeinkommen kompensieren - und schließlich einen zweiten "November 1918" verhindern. Mit "nationalem Sozialismus" hat diese herrschaftstechnische Instrumentalisierung von Sozialpolitik wenig zu tun. Seit den Arbeiten von Tim Mason ist bekannt, dass die Revolution von 1918/19 für die führenden Nazis einen zentralen negativen Referenzpunkt bildete. Aly hat zwar ein Kapitel mit "Das Trauma von 1918" (30-34) überschrieben, spart das "Novembersyndrom" (Mason) jedoch weitgehend aus.
Nach 1939 suchte das NS-Regime den Klassengegensatz zu internationalisieren und die europäische Arbeiterschaft nach rassistischen Kriterien zu hierarchisieren. Dass die Unterschichtung der deutschen Arbeiter seit 1939/41 durch Millionen ausländischer Zwangsarbeiter auch nachhaltig die Mentalitäten der deutschen Arbeiterschaft veränderte, sie zu erheblichen Teilen rassistisch auflud, haben bereits Ulrich Herbert und nach ihm viele andere gezeigt. Aly ergänzt diese älteren Forschungen um einige wichtige Aspekte: z. B. mit seiner Darstellung einer staatlich organisierten Beraubung der "Fremdarbeiter" zwecks Kriegsfinanzierung, die dazu führte, dass ausländischen Arbeitskräften von dem ihnen nominell zustehenden Lohn kaum etwas erhielten (181-186).
Es ist schade, dass Aly sein interessantes Buch durch den Verzicht auf Differenzierung und durch eine scheinbar unkritische, mit Blick auf die Medienresonanz jedoch wohlkalkulierte Übernahme von Floskeln aus der NS-Propaganda entwertet. Die Forschung sollte sich dadurch jedoch nicht abschrecken lassen und auch Alys neues Buch als produktive Anregung begreifen, die hier angeschnittenen Themen differenzierter zu untersuchen. Dazu ist es freilich notwendig, das eingangs zitierte Diktum Alys vom Kopf auf die Füße zu stellen: Das NS-Regime agierte mit "Härte gegen die Massen" und mit "Milde gegen die Bourgeoisie". Es verteilte "klassenbewusst innenpolitisch" die Lasten einseitig auf die Schultern der "sozial Schwachen", zum Vorteil der politischen Machthaber und der Besitzenden. Göring hat das Prinzip dieser Politik, das neben drastischen Lohnsenkungen auch die systematische Zersplitterung der Arbeiterschaft einschloss, in die prägnante Formel gegossen: "Kanonen statt Butter".
Rüdiger Hachtmann