Christoph Nonn: Eine Stadt sucht einen Mörder. Gerücht, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 256 S., 10 Abb., ISBN 978-3-525-36267-9, EUR 19,90
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Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Udo Rennert, Göttingen: Wallstein 2002, 280 S., 20 Abb., Karten, ISBN 978-3-89244-612-5, EUR 29,00
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Olaf Jessen: Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts, München: C.H.Beck 2014
Michael Diefenbacher / Rudolf Endres (Hgg.): Stadtlexikon Nürnberg. In Zusammenarbeit mit Ruth Bach-Damaskinos, Martina Bauernfeind, Walter Bauernfeind, Helmut Beer, Horst-Dieter Beyerstedt, Charlotte Bühl, Wiltrud Fischer-Pache, Maritta Hein-Kremer, Daniela Stadler, 2., verb. Aufl., Nürnberg: Tümmels 2000
Andreas Rose: Die Außenpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs 1890-1918, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013
Christoph Nonn: Das Deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang, München: C.H.Beck 2017
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008
Um 20.000 Mark zu verdienen, mußte der durchschnittliche Industriearbeiter an der Wende zum 20. Jahrhundert etwa 20 Jahre arbeiten. Und für den ungelernten Gelegenheitsarbeiter war diese Summe ein geradezu astronomisches Vermögen, mit dem er sich fast alle Wünsche erfüllen konnte. Eben diese 20.000 Mark setzte das preußische Innenministerium als Belohnung aus für Hinweise auf den oder die Mörder eines jungen Mannes, dessen fachgerecht zerstückelte und ausgeblutete Leiche im März 1900 in Konitz (Chojnice) nach und nach aufgefunden wurde. Der außergewöhnliche Betrag war die höchste Belohnung, die bis dahin in Preußen in einem Mordfall ausgelobt worden war. Und das aus gutem Grund, denn der nie aufgeklärte Mord an dem 18jährigen Gymnasiasten Ernst Winter führte zu üblen Verleumdungen, zu Ritualmordgerüchten, zu wüsten antisemitischen Gewaltausbrüchen, zu militärischer Besetzung und schließlich auch zu über 90 Gerichtsverfahren. Zentrum des Geschehens war Konitz in der Provinz Westpreußen - eine relativ arme Stadt, trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs in der liberalen Phase der Bismarckzeit. Konitz galt als provinziell, war konfessionell wie national zerklüftet und hatte etwa 10.000 Einwohner, davon 480 Juden. Den archivalisch vorzüglich dokumentierten Ermittlungen im Mordfall und den Ausbrüchen antijüdischer Gewalt in der Kleinstadt widmen sich nun gleich zwei Bücher. Sie schließen eine Forschungslücke, denn mikrohistorische Studien zum Antisemitismus im Wilhelminischen Kaiserreich fehlten bisher völlig. Erst sie erlauben detaillierte Antworten auf die Fragen, wann, weshalb, wie und bei wem diese Ressentiments in nackte Gewalt mündeten.
Zunächst zum Buch des Trierer Historikers Christoph Nonn. Er profitiert insbesondere von der noch wenig profilierten und zumindest von der deutschen Historiographie kaum entdeckten Gerüchteforschung. Folgt man Nonn, dann entschlüpfte die master narrative des jüdischen Ritualmords den Hirnen der 43jährigen Anna Roß und ihres 24jährigen Schwiegersohns Bernhard Masloff. Er war Gelegenheitsarbeiter und starker Trinker, und sie vermittelte Dienstboten in bürgerliche Familien, wusch und putzte dort gelegentlich auch selbst. Die beiden sponnen die jahrhundertealte Legende vom Ritualmord, wonach Ernst Winter im Keller des jüdischen Schlachters Adolf Lewy ermordet worden sei, weil die Juden vor dem Pessachfest Blut benötigten, um damit Mazzen (ungesäuertes Brot) zu backen. Zwar wurden beide später wegen ihres Lügengewebes zu Zuchthausstrafen verurteilt, aber die Geschichten fielen in der Stadt auf fruchtbaren Boden, und in der Gerüchteküche brodelte es weiter.
Beflügelt und teilweise angeleitet durch lokale antisemitische Kräfte - im fortgeschrittenen Stadium auch durch die überregional bekannte antisemitische Staatsbürgerzeitung - löste manchen Geschichtenerzählern pure materielle Gewinnsucht die Zunge. Angebliche Zeugen wurden beeinflußt, Gerüchte lanciert und Verdächtigungen gegen Juden begierig aufgriffen und flugs darauf publiziert. Alles dies förderte noch eine Sprach- und Kulturbarriere zwischen eigens aus Berlin angereisten Beamten und der einheimischen Bevölkerung, die zudem die Ermittlungsarbeit erheblich belastete und behinderte. Mit aller Macht drängte die großstädtisch-mondäne Welt in das eigentlich wohl etwas verschlafene Städtchen, das nun ins Rampenlicht der preußisch-deutschen Presselandschaft geriet. Denn nicht nur antisemitische Agitatoren entdeckten es für ihre propagandistischen Zwecke, sondern mit diesen sowie zahllosen Reportern, zwielichtigen Detektiven und hochrangigen, zwickeltragenden Berliner Kriminalbeamten tauchten zum Entsetzen vieler Einheimischer auch erste Automobile auf.
Antisemitismus war kein Tabuthema der Wilhelminischen Epoche, das ist bekannt. Entsprechende Äußerungen wurden nicht nur gesellschaftlich und behördlich geduldet, sondern vielfach war ein strammer Gesinnungs-Antisemitismus einer steilen Verwaltungskarriere durchaus förderlich. Das läßt sich in Konitz und Umgebung eindrucksvoll belegen und stand vielen preußischen Beamten überdeutlich vor Augen. Es gab daneben auch eine offene funktionale Ebene des Antisemitismus: So wurde er politisch instrumentalisiert, denn in der aufgeheizten Konitzer Atmosphäre fand im Frühjahr 1900 eine Landtagsersatzwahl statt. Das polnisch-katholische Lager nutzte die Ereignisse, um in seinen Presseorganen eine judenfeindliche Stimmung zu schüren und die Kräfte hinter dem eigenen Kandidaten zu bündeln. Zwar endete die Wahl schließlich mit einem knappen Sieg des deutsch-protestantischen Kandidaten, aber die Propaganda wirkte fort. Zudem trugen schlampige und nachlässige Ermittlungen von Polizei und überforderter Staatsanwaltschaft, eine notorisch unterbesetzte Gendarmerie sowie stümperhafte forensische Gutachten einen beträchtlichen Teil bei zu Eskalation und Breitenwirkung des Ritualmordglaubens. Das tatsächliche wilhelminische Tabu lag hingegen woanders: Freimütig über Promiskuität, Prostitution oder Homosexualität zu reden war fast unmöglich und skandalös. Zwar unterstellte das Stadtgeflüster Ernst Winter homoerotische Neigungen und er galt als potenzstrotzender Herzensbrecher. Und einige Indizien, wie etwa die Verteilung von Spermaspuren auf der erst im Januar 1901 aufgefundenen Kleidung sprechen dafür, dass Winter von der Hand eines gehörnten Ehemanns oder aufgebrachten Vaters starb, während er bekleidet Geschlechtsverkehr hatte. Aber diesen Verdachtsmomenten, die nicht nur in die Konitzer Halbwelt, sondern auch in angesehene bürgerliche Kreise geführt hätten, spürten die zuständigen Ermittler mit wenigen Ausnahmen nur halbherzig nach.
Kaum noch Raum gewährt Nonn wirtschaftlichen Gründen für die Ausschreitungen, die er noch vor wenigen Jahren in einem Aufsatz zu den Konitzer Ereignissen als zentrales Movens erkannt hatte. [1] Die Vorfälle führt er nun zurück auf ein ganzes Ursachenbündel, welche das Ritualmordgerücht und damit letztlich auch die tumultuarische Gewalt hervorrief: in der Faszination des Bizarren, waren die Konitzer doch selbst Teil einer Gräuelgeschichte, wie sie sonst nur in der sogenannten Schmutz- und Schundliteratur zu lesen war; in einer langen Tradition des Ritualmordgerüchts; in Angst und Verfolgungswahn und schließlich auch im Aberglauben. Nonn macht als Leitmotiv des Geschehens das selbstsüchtige Geltungsbedürfnis der Zeitgenossen aus; für ihn ist dies eine zeitlose menschliche Grundeigenschaft und noch vor einem latenten Antisemitismus verantwortlich für die abstrusen Geschichten vom jüdischen Ritualmord (199). Viele konnten durch ihre Geschichten und angeblichen Zeugenrollen eine Aufmerksamkeit erlangen, die sie sonst nicht erhielten: Dienstmädchen ebenso wie bedauernswerte Außenseiterexistenzen; die sensationsgierige (antisemitische) Presse trug ihr Scherflein dazu bei. Möglicherweise aber reicht das Geltungsbedürfnis doch weiter. Hält man sich das kaiserliche Paradebeispiel vor Augen, dann wäre darin doch so etwas wie ein Signum der Epoche auszumachen.
Das zweite Buch zu diesem Thema stammt aus der Feder von Helmut Walser Smith. Er ist Associate Professor für Neuere Geschichte in Nashville, Tennessee, und bereits vor einigen Jahren mit einer wichtigen Studie zum Verhältnis von Nationalismus und religiösen Konflikten im Deutschen Kaiserreich hervorgetreten. [2] Seine Leitthese lautet: In dem westpreußischen Landstrich trat ein sonst latenter Antisemitismus offen zutage. Davon ausgehend fragt er danach, warum die zwischenmenschliche und nachbarliche Solidarität derart rasch zusammenbrechen und eine fast mörderische Dynamik entfalten konnte (13). Zunächst einmal war nicht selten tödlich endende Gewalt ein vielfach akzeptiertes Mittel der politischen Auseinandersetzung im Wilhelminischen Kaiserreich. Dies gilt insbesondere für die polnisch-preußische Grenzregion, die vor dem Hintergrund der rigiden Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung einen erbitterten Nationalitätenkonflikt ausfocht. Und auch die konfessionelle Scheidelinie und der offensichtlich besonders heftige polnische Antisemitismus trugen ihren Teil zur Gewalt bei.
Die Meistererzählung des Ritualmords stammt bei Smith aus dem Munde des christlichen Schlachters Gustav Hoffmann (96f.). Der sittenstrenge Altlutheraner Hoffmann, Stadtratsmitglied und Obermeister der Fleischerinnung, gehörte zweifelsfrei zu den 'besseren Kreisen' der Kleinstadt. Er war kurzzeitig gemeinsam mit seiner Tochter Anna einem Kreuzverhör unterworfen, da ein Kriminalbeamter vermutete, Hoffmann habe Winter im Affekt erschlagen und später zerlegt, nachdem er ihn mit seiner Tochter in flagranti ertappt habe. Hoffmann verfaßte eine antisemitisch grundierte Rechtfertigungsschrift, die in vielen Tageszeitungen und als Broschüre in hoher Auflage erschien und den Hauptverdacht auf seinen jüdischen Berufskollegen Adolf Lewy lenkte. Die fatalen persönlichen Folgen und psychischen Wunden dieser Verdächtigungen gegen die Familie Lewy, insbesondere gegen Moritz Lewy, fängt Smith besonders gelungen ein (178). Wie viele andere jüdische Familien auch verließen sie Konitz im Gefolge der Affäre. Moritz wurde wegen Meineids zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er immerhin zwei abbüßen mußte, bevor Wilhelm II. ihn begnadigte.
Im Unterschied zu Nonn skizziert Smith den Ritualmordglauben und seine Geschichte ausführlich (100-154). Hier entsteht erst der Eindruck, dies sei zu ausführlich und allzu bekannt, aber die kulturgeschichtliche Einbettung und die Fäden der Erinnerungstraditionen werden aufgegriffen. Das tritt dem Leser spätestens bei der Lektüre des spannenden Kapitels über die Inszenierung eines Ritualmordes (190-214) vor Augen. Basierend auf den Arbeiten des Anthropologen Victor Turner über rituelles Handeln entwickelt Smith eine brillante These. Danach erschöpfte sich der vor allem von jungen Männern aus den Unterschichten und Frauen getragene Konitzer Tumult in Droh- und Einschüchterungsgebärden und war nichts weiter als ein rituelles Schauspiel. Nicht die staatliche Ordnungsmacht, die dem tobenden Mob teilweise ohnmächtig gegenüberstand und sich blutige Nasen einhandelte, bewahrte die Konitzer Juden vor Schlimmerem, sondern der tiefverwurzelte Ritus selbst hatte Grenzen und machte vor Mord halt; allerdings verstießen die Konitzer Christen ihre jüdischen Nachbarn aus der kleinstädtischen Gemeinschaft, markierten brutal die Grenzen von Assimilation wie Integration und begingen damit letztlich selbst den vielbeschworenen Ritualmord. Und das Schauspiel ging noch weiter: Ernst Winter selbst wurde schließlich Teil einer lokalen Erinnerungskultur, setzte ihm ein Bürgerausschuß doch zum ersten Jahrestag des Mordes ein Denkmal mit der Inschrift "Hier ruht in Gott Ernst Winter, von ruchlosen Händen geschlachtet" (238); antisemitische Postkarten wie Broschüren verbreiteten noch Jahrzehnte später das Märchen vom jüdischen Ritualmord in Konitz.
Ohne Wenn und Aber: Das bessere Buch stammt von Helmut Walser Smith. Es ist überzeugender konstruiert, anregender zu lesen und zudem glänzend geschrieben. Man mag es gar nicht aus der Hand legen und muß es in einem Zug lesen. Auch Christoph Nonns Buch ist flott geschrieben, wenngleich gelegentlich auch zu flott: Was soll beispielsweise die Formel vom "sozialen Bodensatz" (138 und öfter), um untere soziale Schichten zu charakterisieren? Beide Bücher lassen eigentlich nur einen Wunsch offen: Zu gerne wüßte man am Ende, wer denn nun der Mörder war. Aber dass sie dieses Rätsel nicht lösen, kann man den Autoren nicht vorwerfen, denn sie sind schließlich Historiker und keine Krimiautoren.
Anmerkungen:
[1] Christoph Nonn: Zwischenfall in Konitz. Antisemitismus und Nationalismus im preußischen Osten um 1900, in: HZ 266 (1998), 387-418.
[2] Helmut Walser Smith: German nationalism and religious conflict: Culture, Ideology, Politics, 1870-1914, Princeton 1995.
Nils Freytag